„Willkommen in der Sowjetunion!“

Heute habe ich es endlich – nach zwei Jahren anderweitiger Aufregung – geschafft, meinen Erfahrungsbericht zu schreiben, den ich viel eher hätte schreiben sollen, nachdem ich Anfang November 2019 eine Dienstreise nach Lettland angetreten hatte, und das im Rahmen von Erasmus, das hoffentlich vielen von euch ein Begriff ist.

Als ich den Bericht schrieb, kehrten Erinnerungen zurück. Morgens um kurz nach 5 hatte ein Taxi mich abgeholt und zum Flughafen Düsseldorf gefahren, zum Festpreis und mit Kreditkartenzahlung. Von dort sollte ich erst nach Amsterdam-Schiphol fliegen, mit KLM, und von dort weiter nach Riga. Und so geschah es auch.

Ich war unterwegs zu einer Konferenz, einer sogenannten International Staff Week. Einer EU-Veranstaltung.

Es regnete leise, als ich vor dem Haus, in dem ich lebe, auf das Taxi wartete, das alsbald erschien. Und schon rasten wir gen Düsseldorf. Der Fahrer nett, der mich vor dem Abflugbereich in Düsseldorf absetzte. Er meinte noch: „Hier meine Karte. Wenn Sie zurückfliegen, einfach kurz vorher anrufen – dann hole ich Sie auch wieder ab!“ Ich nickte freundlich und bedankte mich, wusste jedoch auch, dass nur eine Fahrt erstattet werden würde. Zurück also besser per Bahn…

Der Abflug von Düsseldorf verspätet, musste ich in Schiphol rennen, um den Anschlussflug nach Riga zu erwischen. Aber ich habe es geschafft und saß schließlich in einer topmodernen Maschine von airBaltic und wartete auf den Start, der dann auch recht bald erfolgte. Und wir flogen in etwas turbulenter Atmosphäre gen Osten, weiter gen Osten, als ich je zuvor geflogen war. Meine Kolleginnen hatten mich bereits für verrückt erklärt, um diese Jahreszeit ins Baltikum zu fliegen, obwohl ich doch auch die Möglichkeit gehabt hätte, eine vergleichbare Konferenz in Valencia mitzumachen. Allerdings zu einem ganz anderen Thema, das mich nicht so reizte – und außerdem liebe ich eher krasse Klimaverhältnisse und kühlere Länder. 😉

Nach einigen Stunden Fluges merkte ich, dass wir uns im Sinkflug befanden, und schon teilte uns der Flugkapitän zunächst auf Lettisch mit, wir befänden uns im Landeanflug auf RIX, auch Starptautiskā lidosta „Rīga“ genannt, ergo Flughafen Riga. Das einzige Wort, das ich verstand, war Riga, und ich kombinierte, dass wir wohl alsbald landen würden. Da ich einen Fensterplatz hatte, blickte ich hinaus und stellte fest, dass wir uns noch immer in der Wolkenschicht zu befinden schienen. Offenbar war die Wolkenschicht hierzulande dicker als anderswo, dachte ich noch, als es auch schon rummste und wir offenbar aufgesetzt hatten – worauf auch immer. Denn wir befanden uns noch immer mitten in den Wolken, so dachte ich, bis mir klar wurde, dass wir offenbar im dicksten Nebel gelandet waren.

Zwar hatte ich bereits vor Abreise die Wetter-App bemüht, und mir war klar, dass das Wetter hier eher rauh sein würde – aber dass hier derartige Verhältnisse herrschen würden, war mir nicht ganz klar gewesen. Aber da ich beim Fliegen immer recht unerschrocken bin, dachte ich nur: „Warum herrschen anderswo eigentlich immer solche Sorgen, wenn hier im dicksten Nebel gelandet wird, ohne dass jemand einen Aufriss veranstaltet?“ Und völlig unerschrocken verließ ich den Flieger und lief zusammen mit den anderen Passagieren polternd durch die Fluggastbrücke, die uns in das Innere des Flughafens führte, wo alles wunderbar klappte – binnen kürzester Zeit waren mein Trolley und ich wiedervereint, und schon stochte ich damit vor das Flughafengebäude.

Vorgewarnt durch meine Schwester, die vier Jahre zuvor auf Recherchereise ganz allein mit einem Mietwagen das Baltikum durchquert hatte, nachdem sie initial in Riga gelandet war, hielt ich Ausschau nach einem rotzgrüngelben Taxi der Firma Baltic Taxi. „Das einzig faire Taxiunternehmen und günstig,“, hatte sie mir gesagt. „Ich selber bin auf einen Halsabschneider hereingefallen – da stehen vor dem Flughafen auch andere, private Taxifahrer, die einen abzocken!“  

Dort hinten stand eines! Und ich stochte mitsamt Trolley durch den strömenden Regen, der aus dem steingrauen – Loriot ließ grüßen! – Himmel stürzte, hin und erklärte dem Fahrer, ich müsse zur Straße des 13. Januar, wo mein Hotel sich befände. Er fuhr mich hin, und auf der etwa zwanzigminütigen Fahrt stellte sich heraus, dass er einige Zeit in Deutschland gelebt hatte und Deutsch mit reizend baltischem bzw. lettischem Akzent sprach. Er fragte mich während der Fahrt, ob ich schon einmal in Lettland gewesen sei und warum um alles in der Welt ich im November erstmalig anreiste! Sein Land sei eigentlich nur im Sommer so richtig schön – unbedingt müsse ich noch einmal im Sommer anreisen!

Ich teilte ihm freundlich mit, ich sei beruflich vor Ort, und er rief begeistert: „Ah! IT!“ – „Äh, nee. Eigentlich gar nicht technologisch. Eher europäisch und EU-mäßig.“ – „Ah! Ist auch wichtig!“ Ich war beruhigt – er fand das auch wichtig. 😉 Und während er mir erklärte, dass ich unbedingt im Sommer bei blauem Himmel, weißen Wolken und blühenden Blumen noch einmal einreisen müsse, fuhr er mich durch die steingraue, verregnete Landschaft, vorbei an Industriebrachen und Plattenbauten, mindestens ebenso grau wie der Himmel. „Vorstädte!“ dachte ich, mich selber beruhigend. „Dein Hotel ist ja zum Glück mitten in Riga, direkt an der Düna!“

Irgendwann wurde die Gegend belebter und städtischer – leider immer noch grau. Und dann fuhr er vor ein modernes und weniger graues Gebäude – mitten an einer Hauptverkehrsstraße, die dadurch auffiel, dass ein echtes Gewirr an Oberleitungen darüber gespannt war. Und mein Fahrer rief: „Voilà! 13. janvāra iela!“ – „Äh, Straße des 13. Januar?“ – „Ja!“ rief er fröhlich und sagte: „Wollten Sie hierher, ne?“ – „Äh, ja…“ – „Ist Hotel Avalon! Ist Ihre Hotel!“

Ich blickte mich um. Überall Oberleitungen, ein Riesengewirr, O-Busse mit beeindruckenden Stromabnehmern, ein hoher, grauer Turm im Sowjetstil, alles ziemlich grau. Netterweise befand sich in Leuchtschrift das Wort Rīga auf der Spitze des Turms, so dass man wenigstens wusste, wo man sich tatsächlich befand. Bis auf das Hotel wirkte alles grau – das war modern, außen verglast, innen farbenfroh. Das Doofe: Es nutzt wenig, wenn das Haus, in dem man sitzt, von außen attraktiv ist, wenn all das, auf das man blickt, wenn man im attraktiven Gebäude sitzt, wenig attraktiv ist. Das Gegenüber im wenig attraktiven Gebäude hat da mehr Glück mit der Aussicht… 😉

Ich konnte gar nichts sagen, als der Fahrer fröhlich zum Kofferraum lief, um meinen Trolley herauszuholen. Mein einziger Gedanke: „Willkommen in der Sowjetunion!“ Und durch meinen Kopf schoss der Text eines Beatles-Liedes von 1968: „The Ukraine girls really knock me out – they leave the West behind. And Moscow girls make me sing and shout – that Georgia’s always on my my my my my my my my my mind… […] Yeah, I’m back in the U.S.S.R., you don’t know how lucky you are, boys – I’m back in the U.S.S.R.!“ Und während mir der Refrain durch den Kopf ging, fiel mein Blick auf ein Heldendenkmal auf der anderen Seite der mehrspurigen Straße, das aus zwei namenlosen Helden mit dramatisch wehenden Haaren bestand, die sich in Kampfpose gegen irgendetwas auflehnten… Vermutlich gegen den Kapitalismus. Oder gegen den von der Düna – lettisch: Daugava – auffrischenden Wind. Es wirkte alles irgendwie sehr sowjetisch, und das wirkt nicht sehr fröhlich, wenn man – wie Billy Joel es einst nannte – ein Cold War kid ist, das 1986 in Ost-Berlin angesichts der freudlosen „Helden“-Atmosphäre schon die Krise bekam und viel früher als geplant die Grenze in den West-Berliner „Inselstaat“ wieder überschreiten musste.

Ich fühlte mich wie ausgesetzt. Ausgesetzt in einem Land, in dem man um Himmels willen niemals ausgesetzt sein möchte…

Ich drückte dem sehr netten Taxifahrer schweigend die Taxe nebst großzügigem Trinkgeld in die Hand, er bedankte sich und sagte dann besorgt: „Alles okay? Sind Sie bisschen blass und so still – anders als bei Fahrt!“ – „Nein, nein, alles okay!“ stammelte ich und lächelte ihn tapfer an, obwohl mir eigentlich danach war, ihn zu bitten, noch mit hineinzukommen, weil ich mich auf einmal so ausgesetzt fühlte. Vielleicht ein kleiner Begrüßungssekt an der Bar? Doch nein – ich war ja groß.

Der Fahrer fuhr mit seinem Taxi weg, und ich ging zur Rezeption. Sehr nette Mitarbeiterin, die mir gleich alles erklärte, mir meine Keycard aushändigte und mir erklärte, mein Zimmer sei im siebten Stock. Ich fuhr mit dem Aufzug hinauf – ein gläserner Aufzug, und ich musste in den siebten Stock, mit Höhenangst… 😉 Während der Fahrt blickte ich gen Aufzugdecke…

Das Zimmer sehr schön, schritt ich gleich zum Fenster. Die Aussicht ist wichtig. 😉 Nach links blickte ich auf den Zentralmarkt, den Turm mit Rīga-Leuchtschrift und Richtung Bahnhof. Ich beschloss, lieber nach rechts zu blicken: Da war die Düna bzw. Daugava. Sehr schön! Unten tobte der Verkehr, aber davon hörte ich oben nichts – sehr gute Fenster! 😉

Dennoch sank ich frustriert mit dem Hintern auf das Hotelbett. Was um alles in der Welt hatte mich geritten, um diese Jahreszeit mutterseelenallein in eine Stadt zu reisen, die von hier aussah wie eine Stadt mitten in der Sowjetunion? Ich gestehe, ich fühlte mich in dem Moment sehr allein. 😉

Doch da meldete sich mein Magen, der seit 5 Uhr früh bis auf einen Snack von airBaltic, drei Tassen Kaffee, eine von KLM, zwei von airBaltic, wo man immerhin Lavazza serviert hatte, nichts geboten bekommen hatte. Da ich ziemlich erledigt war, wollte ich nicht essen gehen, mir aber zumindest etwas Essbares besorgen und den Abend eher leger im Hotelzimmer verbringen. Und so packte ich meinen Trolley aus, schnappte meinen Regenschirm und stürzte mich ins graue Abenteuer.

Ich war drei Stunden unterwegs – und gelangte dabei auch in die Altstadt. Die war zwar auch grau, weil der Himmel so grau war, aber wunderschön – das sah man auch bei dem bescheidenen Wetter und Sturzregen. Zumindest noch solange, bis es dunkel wurde – und das passierte recht früh. Klar, so weit östlich… Sehr früh einsetzende Dunkelheit und wolkenbruchartiger Regen – eine besonders schöne Kombination… Zum Glück hatte ich passende Kleidung und Schuhe dabei. Ich kaufte ein, unterhielt mich nett und auf Englisch mit mehreren Menschen – und schon sah alles irgendwie besser aus, obwohl mir diese netten Letten allesamt sagten, besser wäre es gewesen, wäre ich im Sommer angereist. Aber das könne ich ja noch machen, wenn ich das nächste Mal käme, und dass ich das tun würde, setzten sie voraus. 😉

Und so ging dieser erste Tag doch recht nett aus.

Nach fünf Tagen – einer davon, der vorletzte, war völlig regenfrei gewesen, während alle anderen von Sturzregen und Steingrau geprägt waren – war ich derart verliebt in die Stadt, dass ich richtig traurig war, wieder abreisen zu müssen. Begeistert von den Menschen dort, der Altstadt, der Stimmung – und auch von der Konferenz, bei der ich war, zu der ich jeden Morgen fuhr. Natürlich mit der Straßenbahn. Es fuhren dort sowohl hypermoderne Bahnen mit zweisprachigen Ansagen – lettisch und russisch -, als auch eher rudimentär wirkende, altmodische Bahnen, in denen ausschließlich lettische Ansagen erfolgten. Die Bahnen eher „elementar“, aber ich zog sie den modernen vor und ließ die modernen ziehen, um auf die nächste „olle“ Bahn zu warten, mit der ich dann zu der Universität rumpelte, in der die Konferenz stattfand; die alten Bahnen hatten viel mehr Charme, und die Ansagen waren so liebenswert, auch wenn ich kein Wort verstand. Aber die Intonation dieser Sprache, sehr melodiös, war so sympathisch. Man hätte wahrscheinlich auf Lettisch mein Leben bedrohen können – ich hätte den Klang der Sprache noch immer als sympathisch empfunden. 😊 Und am vorletzten und letzten Tag verstand ich zumindest einzelne Wörter und Straßennamen, konnte sogar einer Touristin helfen, an der richtigen Haltestelle auszusteigen, obwohl es ja nur Haltestellenansagen gab, keine visuelle Anzeige.

Ich hoffe, dass ich Riga noch einmal unter diesen Bedingungen besuchen kann… Die Stadt ist sehens- und liebenswert, ebenso ihre Bewohner.

Auch im November. 😊 Möge es so bleiben!