Ich schwöre, ich war niemals wieder derart verstört wie nach dem Hinweis einer früheren Kollegin aus Aachen, die mir erklärte, ihre kleine Tochter dürfe keine Harry-Potter-Bücher lesen, da dort Magie und Zauberei thematisiert werde. Ich wusste, die ehemalige Kollegin und ihre Familie sind Mitglieder einer speziellen Glaubensgemeinschaft, aber da ich mit Kirche an sich nichts am Kopp habe, zumal ohnehin völlig ungläubig, war ich recht irritiert: Das Kind durfte bei Kindern und auch Erwachsenen beliebte Bücher nicht lesen, weil … nein, nicht wirklich, oder?
Ich gebe zu, ich bin nie ein Harry-Potter-Fan gewesen, aber ich habe zwei Bücher gelesen und fand sie einfach für mich nicht interessant. Fall erledigt. Meine ganz und damit ureigene Entscheidung. Dass ein kleines Mädchen, mit dem laut Mutter lautstarke Diskussionen nötig waren, es davon zu „überzeugen“, „solch schädliche Literatur“ nicht „lesen zu wollen“, nicht lesen durfte, was es offenbar lesen wollte, erschien mir krank. Oder zumindest absonderlich und nicht akzeptabel aus meiner Perspektive. Aber das äußerte ich nicht laut. Nur die Frage, was die Kleine dazu sage – immerhin habe sie ja auch Rechte und Ansprüche und orientiere sich, wie Kinder das stets gemacht hätten, an ihrer peer-group.
Die Kindsmutter sagte dazu nur: „Nicht in unserem Haus!“ Okay. Oder auch nicht. Wie ich vor einiger Zeit erfuhr, hat das inzwischen volljährige Kind in lebensentscheidenden Fragen keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern. Das ist zwar einerseits nicht allzu erfreulich, aber ich applaudierte innerlich – gut gemacht, Nina! Ich weiß, dass sie ihre Eltern sehr liebt, aber einen eigenen Willen hat, und das ist gut so. Mit manchen Menschen kann man eben nur noch übers Wetter sprechen. Zumindest so lange, bis diese Menschen begreifen, dass man ein ganz eigener Mensch mit ganz eigenen Vorstellungen ist. Viel Glück, Nina! 😉
Heute las ich in einem sozialen Medium ähnlich Erschreckendes: Eine mittelenglische und eine schottische Universität haben für Anglistikstudenten, -studierende oder -student*innen Listen erstellt, in denen klassische Werke von Autor*innen wie Charles Dickens, Jane Austen, den Brontë-Schwestern, William Shakespeare und weiteren – ergo klassischen anglistiklastigen – Schriftstellern mit „Warnhinweisen“ versehen wurden, weil die Inhalte dieser klassischen Literatur die Studis „verstören“ könnten, und das unter anderem aus „sexistischen“ Gründen! Hallo? Jemand zu Hause? Das sind Klassiker, die in früheren Zeiten geschrieben wurden! Und niemand hindert die Lesenden daran, sich vor dem Hintergrund heutiger Werte damit auseinanderzusetzen – und daran und damit zu lernen. Oder?
Ich habe Anfang der 90er Germinal von Émile Zola gelesen, im Rahmen meines zweiten Studiennebenfachs, und ich erinnere mich an eine ziemlich grauenhafte Szene, die mich wirklich entsetzte. Ich wusste jedoch: „Zola war Naturalist. Die Szene ist erschreckend, und ich habe ein sehr plastisches Vorstellungsvermögen. Das hier ist wirklich widerlich, und das wirst du auch so schnell nicht vergessen, aber das ist Bestandteil deines Studiums, und du musst es im historischen Kontext sehen. Solch grässliche Dinge sind zu Zolas Zeiten passiert, und er wollte uns damit etwas sagen: Nie wieder!“ Das war damals der etwas hilflose Ansatz, nachdem ich die wirklich ekelhafte Szene gelesen hatte. Ich dachte folgerichtig: „Nie wieder darf so etwas vorkommen!“ Ich hatte keine Alpträume danach, habe es aber auch nie vergessen. Und ich hatte gelernt, es literaturwissenschaftlich zu be- und zu verarbeiten.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass man inzwischen bereits erheblich zahmere Werke mit Warnhinweisen versieht, frage ich mich natürlich, ob ich meine Alma Mater oder zumindest den Fachbereich, der mein zweites Nebenfach ausmachte, nicht verklagen sollte. 😉 Und schon zuvor meine Englisch-LK-Lehrerin, die jedoch – leider! – schon seit Jahren verstorben ist. Die hat uns allen Ernstes ohne Warnhinweise Julius Caesar von William Shakespeare lesen und bearbeiten lassen, obwohl da Gewalt, Mord und Totschlag vorkommt! Und zum Teil waren wir nicht einmal volljährig! 😉
Nachdem ich die Nachricht in dem sozialen Medium gelesen hatte, schlug ich mir wiederholt mit der Hand gegen die Stirn, und ich dachte: „Es geht drastisch bergab mit der Kultur.“ Und ich fragte mich, warum „Kinder“, die offenbar nicht in der Lage sind, die Realität zu ertragen, Anglistik oder Vergleichbares zu studieren, so etwas studieren wollen. Bis dato hörte ich immer, Geisteswissenschaften seien nur für Weicheier gemacht. Das ist offenbar falsch. 😉
Gut, ich wusste das immer schon. Nur aus anderen Gründen. Und die haben nichts mit dem zu tun, was heutzutage wohl zu gelten scheint. 😉