Abstieg, einmal mehr

Ich erlebe derzeit den vierten Abstieg des FC Schalke 04 seit seinem Bestehen mit. Ich habe – ich muss es leider gestehen – alle vier Abstiege miterlebt. Keiner war vor meiner Zeit. An mir lag es aber nie, dass Gelsenkirchen Trauer trug – und andere Orte auch, denn Schalke-Fans leben nicht nur in Gelsenkirchen.

Ich bin kein Schalke-Fan. Zumindest nicht so, wie man einen Fan definieren würde. Obwohl ich Fußball sehr mag. Kein Schalke-Fan, obwohl ich hier lebe. Vielleicht aber auch gerade deswegen – mir geht diese hiesige Art Ersatzreligion bisweilen ganz empfindlich auf die Nerven. Speziell dann, wenn ich mal wieder mit der Kirche ums Dorf fahren muss, wenn auf Schalke gespielt werden wird oder wurde und -zig Straßen entweder verstopft oder von der Polizei gesperrt sind. Das nervt!

Und dennoch geht es mir irgendwie nahe, dass nun der vierte Abstieg seit Bestehen dieses Vereins eingetreten ist. Denn irgendwie verbindet mich mit Schalke doch so einiges.

Gelsenkirchen trägt Trauer – keine Frage. Ich habe es erst heute mitbekommen, und mir tut es wirklich leid für die echten Fans. Nicht für die, die Spieler verfolgen und physisch angreifen – das sind keine Fans. Fanatisch vielleicht, aber keine echten Fans, wie ich sie von früher kenne.

Denn im Grunde besteht zwischen mir und Schalke eine sehr lange Verbundenheit. Kein „Fandom“. Verbundenheit und etwas Vertrautes.

Wie kommt das? Ganz einfach… Ich hatte als Kleinkind, wohnhaft in einer großen, komfortablen Wohnung in Gelsenkirchen und vor dem Umzug ins eigene Haus diverse Kilometer entfernt, das ich damals hasste, weil ich aus der Gelsenkirchener Wohnung nicht wegwollte, die mein ganzes vierjähriges Leben umfasste, bis zum dritten Lebensjahr große Angst vor dem Vollmond. Denn der verbreitete stets ein sehr fahles Licht, das Gegenstände im Raum, die bei Sonnenlicht völlig normal ausgesehen hätten, stets sehr unheimlich aussehen ließ. Nicht nur das: Sie sahen völlig verfremdet aus, und als kleines Kind kam ich in Vollmondnächten kaum in den Schlaf. Meine Eltern meist auch nicht, da keiner von ihnen übers Herz brachte, mich weinen zu lassen. Und wahrscheinlich wollten sie doch selber schlafen. 😊

Sie gaben alles. Mein Vater – er ist eher naturwissenschaftlich geprägt – erklärte mir, der Mond sei doch nur ein Trabant, und er erklärte mir nachhaltig alles zum Thema, vor allem auch, warum das Licht des Mondes so anders sei als das Licht der Sonne. Leuchtete mir zwar alles ein, aber unheimlich war es immer noch. Ergo: weiteres Geheul, sobald Vollmond war. 😉

Dann schritt meine Mutter ein, die zu meines Vaters naturwissenschaftlicher Erläuterung sagte: „Tolle Erklärung für eine Dreijährige! Da muss man mit mehr Gefühl ran – sie ist doch noch so klein!“ Meine Mutter unterschätzte mich, denn die Erläuterungen meines Vaters leuchteten mir durchaus ein. Nur: Meine Furcht nahmen sie mir nicht, wenn das Mondlicht akut ins Zimmer schien.

Aber nun nahm sich meine Mutter des Problems an. Ich erinnere mich, dass sie mich eines Vollmondabends aus dem Bett und auf den Arm nahm, zum Fenster trug, auf die Fensterbank stellte und festhielt, wobei sie sagte: „Sieh doch mal, Ali – das ist doch nur der gute, alte Mond. Der tut dir nichts.“ Ich sah hin und sah – Kinder haben sehr viel Phantasie – ein erzürntes, hellleuchtendes Gesicht, rund wie ein Pfannkuchen, mitten am Himmel! Mission gescheitert. 😉

Eigentlich fand ich die bisherigen Aktionen meiner Eltern sehr nett. Doch irgendwie dachte ich immer: „Aber gleich sind sie weg, und dann bin ich allein mit dem Mond!“ 😉 Das Wissen, dass alles ganz harmlos sei, reichte mir offenbar nicht…

Meine Mutter bemühte sich sehr, sang mir Lieder vor, in denen der Mond thematisiert wurde, aber mal ganz ehrlich: Weder Der Mond ist aufgegangen, noch Guter Mond, du gehst so stille wirken beruhigend auf Kinder, die sich ohnehin schon vor dem Mond fürchten. 😉 Ich jedenfalls mag seitdem Lyrik nicht mehr so sehr, die aus der Epoche der Empfindsamkeit oder Romantik stammt oder irgendwelche Ähnlichkeiten damit hat… 😉 Sobald ich Matthias Claudius‘ Abendlied höre oder lese, überfällt mich leise Melancholie, vor allem in der letzten Strophe, in der es um den kranken Nachbarn geht. Viele von euch kennen wahrscheinlich nur die erste Strophe dieses Gedichts, das ihr als Der Mond ist aufgegangen kennengelernt habt, aber es gibt noch weitere Strophen. Und noch schlimmer wird es, lese oder höre ich Guter Mond, du gehst so stille! Lest euch mal die Texte durch! Dabei hat meine Mutter mir von Claudius‘ Abendlied gar nicht alle Strophen vorgesungen – die, die sie sang, reichten schon… 😉

Wie auch immer – auch das fruchtete nicht. Bis meine Mutter eines Vollmondabends eine brillante Idee hatte. Wahrscheinlich war es eher ein verzweifelter und letzter Versuch, als ich mich erneut angstvoll an der Daunen-Steppdecke mit Überschlaglaken – gibt es so etwas überhaupt noch? – festkrallte. 😉 Da sagte sie: „Aber Ali – das sind doch nur die Jungs von Schalke, die noch trainieren! Das ist nicht der Mond! Das ist das Flutlicht im Stadion!“ Atemloses Schweigen war die Folge.

Dann fragte ich: „Echt?“ – „Ja, das sind die Jungs von Schalke! Guck mal, die sind noch wach und trainieren noch – das ist nur das Flutlicht!“ Sie sagte es derart überzeugend, dass ich beruhigt aufs Kopfkissen zurücksank. Und seither gab es keine Probleme mehr, denn alle vier Wochen, wenn der Vollmond hoch am Himmel stand, trainierten für mich abends die Schalker. 😉 Ich habe erst später festgestellt, dass unser Kinderzimmerfenster in die völlig falsche Richtung deutete. Von dort hätte man das Stadion gar nicht sehen können. 😉 Und trotzdem hat Schalke mir als Kleinkind geholfen, ruhig einzuschlafen. So bin ich in gewisser Weise doch ein Fan. 🙂

Lasst euch nich‘ unterkriegen, Knappen – dat wiiaad widda! 😊

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