Die Coronasituation lässt die merkwürdigsten Phänomene zu Tage treten. Nicht nur, dass man feststellt, dass sehr viele Menschen Dinge nicht wissen, von denen man selber annahm, sie seien selbstverständlich und -erklärend und gar nicht so schwer zu begreifen, nein, auch andere Dinge tauchen auf, die man nun schmerzlich vermisst, obwohl so lange Zeit nicht damit konfrontiert gewesen.
Mir fehlt mein Klavier. Ja, das ist kaum zu glauben, und ich hoffe, mein Vater liest das hier nicht. Denn er hat mir von meinem siebten Lebensjahr bis zu dem Zeitpunkt, da ich mich durchsetzte – gute neun, fast zehn Jahre später – stets gepredigt, ich würde noch einmal dafür dankbar sein, Klavier spielen zu können. Mit sieben Jahren fing ich mit Unterricht an – nicht freiwillig. Mit 16, 17 hörte ich damit auf, und das mehr als freiwillig und extrem motiviert. 😉 Dabei hatte ich „sehr viel Talent und Gespür für Musik“ – so mein Klavierlehrer, der mit mir öfter zu ringen hatte, da, so seine Aussage meiner ebenfalls dort klavierspielenden Schwester gegenüber, „Ali ja ein sehr eigenwilliger und direkter Mensch ist, der immer sagt, was er denkt – und sehr sarkastisch; ist sie immer so?“.
Stephie meinte nur immer zu mir: „Kannst du dich nicht einmal normal benehmen?“ – „Wieso? Ich benehme mich normal. Herr Schulmann ist total stur! Momentan soll ich Haydn bis zum Erbrechen spielen – das ist doch todeslangweilig! Und dann erzählt er mir, Haydn sei total wichtig für alles Mögliche! Da habe ich halt gesagt, dass Haydn offenbar total wichtig dafür sei, auch noch den letzten Rest Motivation auszutreiben, wenn man ohnehin lieber ein anderes Instrument als Klavier spielen würde. Was ist denn daran, bitte, falsch oder unnormal? Ich sage nur, was ich empfinde. Ich habe ihm ja sogar vorgeschlagen, dass ich sicherlich weniger kritisch wäre, dürfte ich ein paar andere Komponisten spielen! Ich war absolut entgegenkommend, vor allem, wenn man bedenkt, dass ich nie Klavier lernen wollte.“ Stephie war daraufhin stumm. Dann sagte sie: „Ganz schön dreist.“ – „Ja, dann spiel du doch weiter, was er dir vorgibt, ohne selber Wünsche zu äußern.“
Fortan spielte ich zwar Werke anderer Komponisten, aber nun war ein eindeutiger Mozart-Überhang zu beklagen. Nichts gegen Mozart, aber das ist nun auch nicht mein Lieblingskomponist. Einige Werke von ihm mag ich wirklich gern, aber das Gros empfinde ich als arg „überdekoriert“, verschnörkelt und annähernd kitschig. Erneute Einwände brachten mich zu Schumann, Mendelssohn-Bartholdy, Schubert, Beethoven inklusive Mondscheinsonate, und endlich, endlich durfte ich dann irgendwann Chopin spielen. Ich fühlte mich quasi erwachsen, wenn auch Chopin bisweilen dazu führte, dass meine Stimmung nicht die beste war, da die Stücke, die ich spielte, manchmal arg melancholisch, gar traurig waren, und das zieht einen dann selber herunter. 😉 Und für Chopins Revolutionsetüde, die mir wesensmäßig durchaus näherstand, war ich noch nicht ganz geübt genug, um es mal so auszudrücken. Mir fehlten mindestens vier weitere Hände, perfekt gymnastiziert. 😉
Die Gymnastizierung der Hände ist das A und O beim Klavierspielen, neben anderen Faktoren wie Musikalität und einem gewissen Taktgefühl. Und so tut man immer gut daran, die Gymnastizierung beider Hände wieder und wieder zu trainieren und voranzutreiben.
Als ich eines Tages zur Klavierstunde kam, legte Herr Schulmann mir die Noten zu einem Stück vor, das als Übung hervorragend geeignet sei. Ich las: „Zwölf Variationen über das Lied: ‚Ah! vous dirai-je, maman!‘“ Von Mozart. Ich sah Herrn Schulmann an und zog eine Augenbraue hoch: „Mozart? Och nee! Ich war froh, ihn hinter mir zu lassen.“ – „Das ist eine hervorragende Übung für die Finger.“ – „Naja, gut.“
Und ich begann zu spielen. Nach den ersten sieben Takten brach ich ab, sah meinen Klavierlehrer an und sagte: „Das ist nicht Ihr Ernst, obwohl Sie ja Ernst heißen. Das ist Morgen kommt der Weihnachtsmann für Anfänger! Und Weihnachten ist noch Wochen entfernt! Ich gebe ja zu, dass ich es manchmal an Eifer missen lasse – aber das hier ist ja wohl mehr als eine Strafe! Was habe ich Ihnen getan?“
Herr Schulmann grinste und meinte: „Das ist nur das Hauptthema. Spiel erst einmal weiter…“ Und ich spielte weiter. Variation 1 war noch vergleichsweise harmlos, wenn auch ziemlich reich an Läufen – zum Glück rechtshändig. Variation 2 wartete dann mit linkshändigen Herausforderungen und rechtshändig mit diversen Verzierungen und Trillern auf. Und von Variation zu Variation wurde es immer grausamer. Und die ganze Zeit überlegte ich, was ich Herrn Schulmann nur angetan hätte, dass ich das verdient hätte. Offenbar hatte ich ihn geärgert. 😉 Variation 4 war zum Glück wieder harmlos, sodass ich Gelegenheit hatte, ausgiebig nachzudenken, bevor Variation 5 einsetzte…
Ich habe dieses Stück mehrere Wochen neben anderen Stücken und so lange üben müssen, bis meine Hände auch im Schlaf jede einzelne Variation im richtigen Tempo und fehlerlos wiedergeben konnten. Bis heute weiß ich nicht, was ich meinem Klavierlehrer angetan hatte, dass ich das verdient hatte. 😉 Aber meine Finger waren derart gymnastiziert, dass es mir selber unheimlich war. Und ich musste hinterher selber zugeben, dass dieses im ersten Ansatz albern wirkende Stück perfekt als Fingerübung war. Es ist auch gar nicht wirklich albern, nur würde ich es bei einem Vorspielabend nicht empfehlen, da das Hauptmotiv halt irgendwann trotz Variationen, Tempiwechseln, Trillern und sonstigen Verzierungen doch irgendwie penetrant ist und man sich irgendwann fragt, wann dieser blöde Weihnachtsmann nun endlich komme. Ich selber konnte es in der Zeit, da ich mich damit und sich bisweilen verselbstständigenden Fingern herumschlagen musste, auch kaum erwarten. 😉
Und heute dachte ich daran, dass mir das Klavier fehle. Nach Jahren ohne Klavierspiel meinerseits. Und als erstes dachte ich an: „Ah! vous dirai-je, maman!“ Ist das nicht verrückt? 😉
Aber in der Tat wäre das Stück gar nicht so verkehrt nach jahrelanger Klavierabstinenz und mit eingerosteten Fingern.
Her mit einem Klavier! Die Noten habe ich noch… 😉