Im Allgemeinen sind Rehe sehr schöne Tiere, sehr anmutig und liebenswert. Freundlich, hübsch und durchweg positiv laufen oder springen sie ihrer Wege, und es wird nur dramatisch, wenn ein Rehkitz in einen Mähdrescher gerät oder seine Mutter umkommt und das Kitz dann verwaist ist. Das ist sehr traurig, aber im zweiten Falle finden sich zum Glück wenigstens Menschen, die das Rehbaby dann per Hand mit der Flasche aufziehen. Sicherlich nicht der optimale Lebenseinstieg für ein Rehkind, aber besser, als als Halbwaise – der Vater sonstwo unterwegs, der sich naturgemäß ohnehin nicht um seine Nachfahren kümmert – umzukommen. Dramatisch selbstverständlich auch das Erlebnis, das ein Jogger vor einigen Jahren hatte, als er am Waldrand entlanglief und ein brünftiger Rehbock durchs Gebüsch brach, der im arglosen Läufer einen Rivalen sah und ihn umgehend und ohne jedwede Vorwarnung rehbocktypisch attackierte. Glücklicherweise beherrschte der Jogger eine Kampfsportart – ich glaube, es war Taekwondo – und konnte den Rehbock mit einigen gezielten Tritten dazu bewegen, sich in den Wald zurückzuziehen. Ernsthaft verletzt wurde zum Glück niemand, wenn auch der Rehbock sicherlich das Gefühl hatte, sein Gesicht verloren zu haben. Natürlich nur im übertragenen Sinne. 😉
Vor einigen Jahren meinte mein bester Freund Fridolin: „Rehe sind leider offenbar strunzhageldoof!“ Ich rief: „Aber nein – wie kannst du so etwas sagen! Die armen Tiere! Warum sagst du so etwas? Vielleicht sind sie keine Einsteins – aber doof?“
Es geschah, kurz nachdem er mich zu Hause abgesetzt hatte, nachdem ich ihn und seine Frau in Unterfranken für ein paar Tage besucht hatte. Er musste zu einer Messe irgendwo im Rheinland und meinte: „Ich kann dich auf dem Weg zu Hause absetzen.“ Klar, sehr gern – alles besser als eine öde Zugfahrt! Und so geschah es.
Zwei Stunden, nachdem er mich hier abgesetzt hatte, schickte Mona, seine Frau, mir eine SMS: „Ich kann Fridolin nicht erreichen. Weißt du, was passiert ist? Er müsste doch längst in seiner Unterkunft sein.“ Ich schrieb zurück, er habe mich abgesetzt und sei dann weitergefahren. Dann versuchte ich, ihn auf dem Handy zu erreichen. Ohne Erfolg.
Dann kam eine weitere SMS von Mona: „O Gott! Ein Reh ist Fridolin ins Auto gerannt! Sein Tagungshotel ist am Waldrand.“ Ja, da kommen Rehe durchaus vor … Mir wurde ganz anders – mein bester Freund! Ich sah ihn im Rettungswagen, im künstlichen Koma, mit schwersten Verletzungen, das Reh in vollem Lauf durch die Windschutzscheibe geflogen! Nichts ist unmöglich. Ich schickte Fridolin mehrere SMS: „Geht es dir gut?“
Irgendwann rief er mich an: „Ja, ich bin es – es geht mir gut. Das dumme Vieh rennt mir direkt vor dem Hotel seitlich ins Auto!“ – „Ist das Reh verletzt?“ – „Super, Ali! Du fragst nach dem Reh! Aber keine Sorge – ich bin auch unverletzt, und das Reh ist danach in den Wald gerannt. Ich habe eine Riesenbeule im Auto.“ – „O Gott, das arme Reh! Sicher ist es verletzt – so ein heftiger Aufprall! Am Ende hat es ein Kitz und sich mit letzter Kraft hingeschleppt und ist gerade neben seinem Kind verendet! Und das Kleine fiept hilflos neben seiner toten Mutter!“ „Ali! Du hast zu oft Bambi gesehen! Das Tier ist auf allen vier Beinen und ohne zu hinken in den Wald gerannt!“ – „Ja, aber es kann doch innere Verletzungen haben! Und außerdem ist Bambi gar kein Reh, sondern ein Weißwedelhirsch!“ beckmesserte ich.
Fridolin stöhnte und meinte: „Es freut mich, dass du dir solche Sorgen um mich machst.“ – „Ja, aber ich höre ja, dass es dir gut geht. Das Reh …“ – „… ist im Wald. Ich bin sofort ausgestiegen und habe extra nachgesehen, weil es mir auch leidtat, aber da rannte es weg. Sorry, ich kann es nicht anders sagen, aber Rehe sind strunzhageldoof! Und ich wollte auch nur sagen, dass es mir gut geht – da kommt gerade die Polizei, um den Unfall aufzunehmen. Rehe sind schön, aber strunzdumm!“ Das fand ich ein bisschen hart, denn das arme Tier hatte doch sicherlich Angst gehabt, aber ich sagte lieber nichts mehr. 😉
Ich gebe zu, ich habe da etwas emotional reagiert. 😉 In erster Linie war ich froh, dass meinem besten Freund nichts passiert war, und auch für Mona war ich froh, die wohl so richtig Angst gehabt hatte.
Vor etwa fünf Jahren besuchte ich meine Eltern zum Muttertag. Wir saßen auf der Terrasse und fuhren gegen Mittag in den Nachbarort zu einem Restaurant. Auf dem Weg dorthin unterhielten meine Mutter – sie fuhr – und ich uns lebhaft. Mein Vater saß rechts, ich hinten, und sie drehte den Kopf nach rechts in meine Richtung, als ich, die geradeaus auf die Straße blickte, plötzlich schrie: „Bremsen, Mama!“
Denn vor uns stand ein Polizeiwagen quer auf der Straße, quasi als Straßensperre. Rechts davon zwei Autos mit Warnblinkern am Straßenrand. Mama bremste, und wir hielten knapp hinter den Autos, und sie ordnete sich dahinter ein, ebenfalls mit Warnblinker. Ein Polizist lief mit gezückter Dienstpistole auf der Straße herum – was war da los?
Muttern meinte – allerdings im Scherz: „Was geht denn hier ab? Seht ihr, was da los ist? Suchen die jemanden? Wird hier etwa gleich geschossen?“ Und sie lachte, wie man lacht, wenn man mit so etwas nicht wirklich rechnet. Ich starrte nach draußen und sah zwischen den vorderen Autos am Straßenrand etwas hervorragen, das wie ein hingeworfener Sack aussah, der mehrfach zuckte. Was war das? „Ich glaube, da ist ein Tier angefahren worden,“, sagte ich noch beklommen, als wir auch schon einen Schuss peitschen hörten. Wir sahen einander betroffen an – meine ganze Familie ist sehr tierlieb.
Und als die Polizei die Straße freigab und wir langsam an den anderen Autos vorbeifuhren, sahen wir, dass das vordere Auto eine eingedrückte Front hatte. Davor lag ein kleiner Rehbock, der wohl so schwer verletzt worden war, als er über die Straße und dabei in das Auto gerannt war, dass die Polizei nicht erst auf den zuständigen Jäger hatte warten können, sondern das schwerverletzte Tier lieber schnellstmöglich erlöste. Wir fuhren beklommen weiter, und trotz des angepriesenen Rehbratens wählten wir im Restaurant alle instinktiv etwas Vegetarisches, obwohl niemand von uns echter Vegetarier ist.
Heute besuchte ich meine Eltern, zumal meine Schwester zu Besuch war, die recht weit entfernt lebt und endlich einmal wieder zu Besuch war. Wir saßen in der Sonne, tranken Kaffee, aßen später selbstgemachte Pizza, und wir unterhielten uns. Wie wir auf das Thema kamen, weiß ich nicht mehr, nur noch, dass ich sagte: „Toi, toi, toi! Bis dato habe ich glücklicherweise noch nie ein Tier über- oder angefahren. Von Menschen ganz zu schweigen. Aber auch ein über- oder angefahrenes Tier möchte ich mir nicht vorstellen – zum Glück ist mir so etwas bisher nicht passiert.“
Achtet immer genau auf das, was ihr sagt – möglicherweise beschwört ihr eine Art self-fulfilling prophecy herauf. 😉
Denn als ich mich gegen halb neun abends auf den Heimweg machte, hatte ich mitten auf der Bundesstraße eine Begegnung der Dritten Art …
Die Sonne stand tief, ich fuhr die erlaubten 70 Stundenkilometer – das Auto vor mir weit entfernt, das hinter mir genauso. Wie gut, denn plötzlich sah ich, wie aus einem Seitenweg zur Linken vor mir ein braunes Tier, dessen Fell in der tiefstehenden Sonne fast gülden leuchtete, auf die Bundesstraße trabte. Es trabte federnd und elegant wie ein edles Dressurpferd in diese überirdisch wirkend beleuchtete Szenerie hinein – voller Selbstbewusstsein und unter Missachtung der Vorfahrt. Da alles so überirdisch ausgeleuchtet war und wirkte, war ich im ersten Sekundenbruchteil auch eher fasziniert, trat dann aber umgehend das Bremspedal durch. O Gott! Ein Reh! Mitten auf der Bundesstraße! Und ich verdammt nah dran!
Mein Wagen geriet leicht ins Schlingern, während das Reh auf der Straße stehenblieb und am Boden schnupperte – vielleicht wuchs da ja etwas Leckeres? Das nahm ich zumindest noch wahr, während ich durch Gegenlenken die Schlingerbewegung zum Glück abfangen konnte. Irgendwann trat ich auch die Kupplung.
Knapp vor dem Reh, das überhaupt nicht irritiert reagierte, kam ich zum Stehen, und es hätte mich in dem Moment auch kaum gewundert, wäre es ans Seitenfenster getreten, um mich um einen Euro oder eine Zigarette und Feuer zu bitten. Ich bin mir auch sicher, ich hätte ihm dies in diesem unglaublichen Falle sogar gewährt … 😉
Ein Rehbock war es, wie ich aus der Nähe erkannte, als er mir seinen Kopf zuwandte. Sicherheitshalber schaltete ich die Warnblinkanlage ein – und dann hupte ich! Denn der Kerl stand immer noch auf der Bundesstraße. Auch der Gegenverkehr hupte, der zwar noch etwas weiter entfernt war, aber wohl bemerkt hatte, dass da etwas auf der Straße stand, das besser nicht dort stehen sollte. Das Auto hinter mir war so weit entfernt, dass keine Gefahr bestand, und im Rückspiegel bemerkte ich, dass sein Fahrer wohl zusätzlich sein Tempo gedrosselt hatte – wahrscheinlich schon, als er sah, dass ich eine Vollbremsung machen musste.
Das Hupen ging dem Rehbock dann wohl so auf die Nerven, dass er seinen Standort lieber wechseln wollte, ansonsten aber wenig beeindruckt in elegant federndem Trab seinen Weg fortsetzte. Auf dem Seitenweg, der rechts von der Bundesstraße wegführte, während mir der kalte Schweiß auf der Stirn stand. So ein Knalldepp! 😉
Ich fuhr dann weiter und sah, dass einige Kilometer hinter der Stelle mehrere „Achtung: Wildwechsel!“-Schilder installiert waren, weil dort wohl ein bekannter Wildwechsel ist, zumal dort Felder sind.
Offenbar aber zieht der moderne Rehbock dieser Tage gepflasterte Seitenstraßen vor, statt dort, wo man ihn eher erwartet – an Feldrainen – durch die Ähren zu brechen. 😉 Man macht sich auf Straßen auch die Hufe nicht so schmutzig wie mitten in Feld und Wald, und der Rehbock von Welt achtet heutzutage auf so etwas. 😉
Ich hingegen achte demnächst mehr auf meine Worte, wenn ich mich auch gegen Aberglauben stets sträube. 😉 Und leider muss ich Fridolin recht geben: Die allerhellsten Kerzen auf der Torte scheinen Rehe wirklich nicht zu sein. Denn quietschende Bremsen und herannahende Autos sollte doch auch ein Reh irgendwie als Gefahr wahrnehmen können – oder etwa nicht? Da es noch nicht dunkel war, war das Tier auch nicht geblendet, sondern hielt völlig entspannt inne und sah mich, als ich schweißgebadet in geringer Entfernung zu ihm hielt, auch eher neugierig an.
Versteht mich nicht falsch, denn ich liebe Tiere sehr, auch Rehe, aber ich war doch ein bisschen irritiert, als er mitten auf der Bundesstraße stehenblieb wie ein Fels in der Brandung, um am Straßenbelag zu schnuppern … Ein wirklich schönes Tier – und erst dieser elegante Trab, mit dem es sich entfernte! Ich war froh, dass er und ich unverletzt geblieben waren, und ich wünsche ihm nur das Beste.
Im Wald. 😉