Adrenaline Surges 

Ich mache drei Kreuze, wenn ich ab nächstem Montag ganze acht Arbeitstage Urlaub habe, denn den letzten Urlaub hatte ich vor inzwischen einem halben Jahr, und das macht sich allmählich bemerkbar und hinterlässt Spuren.

Als ich heute ins Büro kam, fragte ich meine Team-B-Kollegin Gina: „Gina, kann es sein, dass ich seit gestern graue Haare bekommen habe?“ Gina sah genau hin, sagte jedoch: „Dein Ansatz ist eher dunkelblond. Aber du siehst ein bisschen müde aus.“ – „Alles klar – ich rufe noch diese Woche bei meiner Friseurin an …“ – „Nein, nein, ich meine wirklich dunkelblond und keineswegs grau, und der Ansatz ist minimal. Ach, was sage ich! Minimalst! Aber wie gesagt: Ein bisschen müde siehst du aus.“

Kein Wunder – ich hatte so gut wie gar nicht geschlafen in der letzten Nacht. Ich schlafe ohnehin schlecht in der letzten Zeit, seit gestern jedoch in besonderem Maße. Ich hatte einen Homeoffice-Tag, und an all die, die glauben, „Homeoffice“ sei Entspannung pur, gleich dies: Ich arbeite im Homeoffice oft noch länger als im Büro, da ich stets die Befürchtung hege, etwas zu verpassen oder zu übersehen. Und von meiner Tätigkeit – erst recht aber unverzeihlicher Untätigkeit – hängen andere Menschen ab. Da bin ich dann besonders aufmerksam und mache speziell im Homeoffice öfter Überstunden, und die nicht einzeln. Ich schreibe sie allerdings nicht auf – sollte ich aber vielleicht einmal tun. Doch dazu später. 😉

Gestern habe ich besonders früh angefangen – um sieben Uhr! Das ist eine für meine Verhältnisse völlig unübliche Zeit, aber ich musste gestern sehr früh Feierabend machen, da um 15:45 h ein Zahnarzttermin dräute. Die Brücke oben links, die aus drei Elementen bestand (man beachte das Präteritum 😉 ), hatte sich gelockert, und da geht man besser schnellstmöglich zum Zahnarzt. Daher mein völlig ungewöhnlicher Arbeitsbeginn.

Zunächst arbeitete ich Mails ab, bearbeitete darüber hinaus das, was außerdem dringend bearbeitet werden musste, und dann nahm ich an einem Zoom-Meeting mit einer Kollegin und diversen unserer Klienten teil. Eine Stunde war angesetzt – es wurden dann zwei daraus. Zwischendurch brummte mein Handy mehrfach – Rufumleitung über meine Büronummer -, aber ich konnte nicht drangehen.

Hinterher sah ich dann: O Gott – mindestens ein Notfall war darunter, der mir auch schon eine Mail geschickt hatte. Ich kümmerte mich umgehend um Lösung, und dann klingelte das Handy ununterbrochen …

Ich fühlte mich bereits ziemlich abgespannt, als ich zum Zahnarzt ging. Nur durch eine gewisse Überbeanspruchung meiner Wenigkeit ist zu erklären, dass ich dort schließlich so reagierte, wie ich reagierte … 😉

Denn der Zahnarzt wollte die gelockerte Brücke abnehmen – was harmlos klingt, eigentlich auch ist, jedoch mit dem Einsatz zwar nicht von Hammer und Meißel, aber etwas Ähnlichem einhergeht. Der Zahnarzt und die „Stuhlhelferin“ – klingt nach etwas ganz anderem, als gemeint ist – begaben sich ans Werk, und bereits beim zweiten Versuch löste sich die Brücke, und da rief mein Zahnarzt: „Oh! Jetzt haben wir ein Problem!“ („Wieso das?“ dachte ich. „Das Ding ging doch glatt heraus!“ Aber genau das war das Problem …)

Denn der Zahnarzt sagte: „Frau B. – das Problem besteht darin, dass der hintere der beiden Brücken-Pfeilerzähne abgebrochen ist. Der ist hin. Nur noch die Wurzel im Kiefer.“ O Gott!
Mein Zahnarzt sah mir ins Gesicht und meinte: „Frau B. – was ist los? So kenne ich Sie gar nicht! Sie sind ganz blass geworden und sagen kein Wort. Sie wirken, als stünden Sie unter Schock! So kenne ich Sie nicht, denn ansonsten reagieren Sie immer mit einem gewissen Sarkasmus und schwarzem Humor auf derlei Hiobsbotschaften. Ist alles in Ordnung?“ – „Nee. Aber wenn Sie schwarzen Humor wünschen, kann ich Ihnen sagen, dass ich wohl wieder anfangen werde, Lotto zu spielen, denn sechs Richtige werde ich brauchen, nachdem der Zahn ganz hinten nun verloren ist. Denn das bedeutet doch sicher, dass ich ein Implantat benötige, nicht wahr?“ – „Es gibt noch eine andere Möglichkeit – aber die ist nicht so haltbar.“ – „Sehen Sie – und da wundern Sie sich, dass ich keinen Ton sage.“ – „Es tut mir sehr leid.“ – „Wieso habe ich nicht gemerkt, was da passierte – ich wäre doch sofort hier in der Praxis gewesen! Aber es tat nichts weh, es gab kein Anzeichen – ich bin wirklich etwas geschockt.“ Ja, und ich war völlig durch den Wind, denn sonst wäre mir eingefallen, dass der hintere Pfeilerzahn ja nicht nur wurzelbehandelt war, sondern auch schon eine Wurzelspitzenresektion mitgemacht hatte. Der war tot, und da konnte nichts mehr wehtun.

Der Zahnarzt rief einen Zahntechniker herbei, drückte dem die dreigliedrige Brücke in die Hand und sagte: „Bitte trennen, damit wir zumindest den Fünfer wieder überkronen können. Der ist absolut in Ordnung.“ Der Zahntechniker verschwand mit meinen drei „Zähnen“, während ich noch immer völlig konsterniert im Zahnarztstuhl lehnte und Zahnarzt und Helferin voller Hingabe ein Panorama-Röntgenbild meines Gebisses betrachteten … In der Zwischenzeit rasten meine Gedanken: „Die Wurzel des abgebrochenen Zahnes muss gezogen werden – das wird richtig bescheiden! Denn ohne Schneiden und Ausgraben geht da nichts! Und dann kommt wieder dieser Miniatur-Trennschleifer zum Einsatz, und jede Wurzelspitze wird einzeln herausgeholt …“ Wobei herausholen ein echter Euphemismus ist.

Das hatte ich schon einmal mitgemacht, und gegen Ende des reizenden Eingriffs hatte ich damals gedacht: „Wie gut, dass es nun vorbei ist! Lieber noch einmal mein Magister-Examen: Magisterarbeit über sechs Monate, davor mindestens sechs Monate Recherche, drei Prüfungsklausuren und drei mündliche Prüfungen, in denen du alles wissen musst, was du je im Studium gelernt hast.“ Das war damals großer Stress – aber ich hätte es sofort erneut in Angriff genommen, wäre mir nur der dentalchirurgische Eingriff erspart geblieben. 😉‘‘

Dann trat der ZA wieder an mich heran und verkündete das Verdikt: „Die Wurzel muss ausgegraben werden, und hinter diesem Zahn liegt auch noch ein Weisheitszahn im Kiefer. Wir machen den Schnitt dann einfach etwas länger und sehen zu, dass wir den Weisheitszahn auch noch herausholen. Klotzen, nicht kleckern, denn wenn wir schon einmal dabei sind, Frau B. …“ Und er fügte hinzu: „Und das machen wir dann in der kommenden Woche.“

Wie praktisch, denn da habe ich ja Urlaub … 😉 Ich hatte mich auf ruhige Tage gefreut, wenn schon mein Auslandsurlaub dieses Jahr ausfallen müsse. Und dann am Mittwoch so etwas! 😉

Ich ging dann recht schnell nach Hause – es wartete noch Arbeit, und die lenkt ja immer von Misshelligkeiten ab, nicht wahr? Denn heute musste ich einen Live-Vortrag im Rahmen einer kleinen „Messe“ halten. Natürlich dieses Jahr virtuell, während diese Infoveranstaltung sonst immer als Präsenzveranstaltung stattgefunden hatte.

Für gewöhnlich habe ich kein Problem damit, auch vor größerem Publikum zu sprechen – im Gegenteil, denn das macht mir sogar Spaß. Aber heute musste ich per Zoom quasi „in den weiten Weltenraum“ hinein sprechen, ohne jedwedes Feedback, ohne Augenzwinkern, ohne Mimik, ohne Gestik.

Zunächst lief es gut, denn da war nur mein Kollege Pepe anwesend, der die Messe logistisch betreut. Ein total netter und lockerer Mensch, und ich plauderte ebenso locker drauflos. Lief doch prima! 😊

Auf einmal machte es „ding-dong“ – ein weiterer Teilnehmer kündigte sich an. O Gott – es war mein Chef! 😉 Ich hätte ja zu gern mein Gesicht gesehen, aber wohlweislich hatte ich nur Bildschirmpräsentation ausgewählt und festgelegt, und ich riss mich zusammen und gewährte meinem Chef Eintritt zu dem Vortrag.

Nur kurz zur Erklärung: Ich mag meinen Chef sehr, aber seine Anwesenheit verunsicherte mich dennoch – und dann hakte auch noch die Präsentation! Hätte ich Blickkontakt zum Publikum gehabt, hätte es mich nicht verunsichert. Aber hier sprach ich quasi ins Nichts, und das ist dann doch ein ganz  anderes Gefühl. Es kamen noch weitere Teilnehmer, und irgendwann war ich froh, als mein Vortrag beendet war, und ich stoppte die Aufzeichnung.

Pepe schaltete sich ein, und er rief: „Das war klasse, Ali – ein ganz dickes Schulterklopfen von mir!“ – „Danke, nett, aber es war grauenhaft!“ – „Unsinn!“ – „Nein, wirklich – es war furchtbar! Ich habe irgendwann den roten Faden verloren! Und dieses Gestammel! Das kenne ich von mir nicht – das kann ich besser!“ – „Findest du? Ich fand dich ziemlich locker, und der rote Faden war auch da!“

Und da schaltete sich mein Chef ein, und das im wahrsten Sinne, denn er schaltete die Videofunktion für seinen Part ein. Ich sah, wie er fröhlich lachte, und ich schlug die Hände vors Gesicht und rief: „Was für eine Schmach!“ Da rief mein Chef: „Ali! Du spinnst! Ich fand dich cool, und der Vortrag war gut – du bist immer viel zu selbstkritisch!“ – „Mir fehlte das reale Publikum, und dann kamst du auch noch – es war furchtbar!“ Und da meinte mein Chef: „Ach, Ali, das tut mir leid! Ich bin eigentlich nur gekommen, weil ich dachte, dass dich das beruhigen würde!“ Ich lachte und meinte: „Falsch. Ich konnte es als Kind schon nicht leiden, wenn ich Klavier übte und sich jemand danebensetzte, weil er es so nett fand, mir zuzuhören. Ich spielte immer besser, wenn ich allein war.“ – „Das merke ich mir. Aber der Vortrag war gut und wirkte sehr natürlich.“

Ja. Davon bin ich überzeugt, denn ich habe derart oft „äh“ gesagt, dass es natürlicher kaum geht. 😉 Und die mehrfach hängende Präsentation wirkte auch sehr natürlich – da bin ich mir ganz sicher. 😉

Aber immerhin habe ich die virtuelle Premiere hinter mir. Beim nächsten Mal läuft alles reibungslos – da bin ich mir absolut sicher. Nur frage ich mich gerade: Wozu habe ich gestern noch bis zum Erbrechen geprobt? Ach ja … Ablenkung von der Zahnkatastrophe! Somit doch für etwas gut. 😉

Euch einen schönen Abend, und drückt mir bitte für den nächsten Mittwoch die Daumen! Ich bin ja irgendwie froh, dass wir noch Maskenpflicht haben und ich zwei Masken von meiner Krankenversicherung geschenkt bekommen habe, bei denen ich erst dachte: „Huch! Dahinter verschwindet ja sogar mein Gesicht fast komplett!“ Echt nützlich ab der kommenden Woche, wenn ich meine nach der OP zerbeulte Visage und die unvermeidlichen Hämatome verbergen möchte.

Wenn das kein perfektes Timing ist! 😉 Fast wie geplant.

Aber eben auch nur fast. 😉

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