Wohin mit dem Klavier?

Heute habe ich meine Eltern endlich mal wieder besucht – es war seit einiger Zeit überfällig. Wir wohnen nur 20 Kilometer voneinander entfernt, und ich wollte sie schon seit einigen Wochen mal wieder länger besuchen, was ich sonst öfter tue – aber es kam dauernd etwas dazwischen.

Erst war meine Mutter krank, und das ansteckend. Das Wochenende darauf war für meine Tante reserviert, die allein ist und sich über Besuch freut, die ich auch sehr gern besuche, weil ich sie sehr mag. Das stand schon länger fest. Letzte Woche lag ich mit einem Magen-Darm-Virus so richtig flach. Flacher ging kaum.

Nun endlich in dieser Woche, und so fuhr ich heute hin. Es gab ein hervorragendes Mittagessen – Kalbsbäckchen mit Klößen und Gemüse. Sehr lecker. Ich hätte mir sicherlich nur einen Salat gemacht, wäre ich nicht gefahren. Schmeckt zwar auch, aber das hier war wirklich hervorragend.

Nach dem Essen gab es Kaffee, von mir gekocht, und meine Mutter rief, ob ich sie umbringen wolle – der Kaffee sei ja derart stark, dass man Sorge um das Herz-Kreislaufsystem haben müsse. Mit Milch ging es dann aber.

Beim Kaffee meinte meine Mutter: „Ali, bist du am Klavier interessiert?“ Und sie deutete auf das wundervolle, alte Klavier, mit dem ich groß wurde. Es ist ein echter Methusalem und über hundert Jahre alt, klingt aber – wenn gestimmt – wunderbar und hat einen schönen, ein wenig weichen Anschlag. Es ist kein besonders hochklassiges Piano, kein Bechstein, aber schon seit vielen Jahrzehnten in der Familie, ein echtes Erbstück, und ich saß schon als etwa Dreijährige daran und klimperte darauf herum, wobei ich behauptete, ich spielte den Rosenkavalier, eine Oper von Richard Strauss. Hatte ich wohl irgendwo aufgeschnappt. Auf dem Notenhalter das alte Grundschul-Liederbuch meiner Mutter, welches auf dem Kopf stand … 😉

Auf diesem Klavier habe ich die ersten Tonleitern und die ersten kleinen Übungsstücke erlernt, und es nahm mir mein überschäumendes Temperament nie übel, wenn ich wieder eine Stufe weiter war und ein Stück üben musste, dessen Technik, Fingersatz und Dynamik noch übungswürdig und -bedürftig war. Es war erfreulich duldsam, wenn ich haareraufend daran saß und – wenn ich so richtig fuchtig wurde, wenn meine Finger sich zu verknoten schienen bei einem besonders schnellen Lauf – mit beiden Händen bzw. allen zehn Fingern auf die Tasten eindrosch, um meinem Zorn Luft zu verschaffen, zumal ich nie Klavier hatte lernen wollen. Auch das nahm das Klavier nie übel. Aber es erlebte auch die Zeiten, da ich voller Freude darauf spielte – da war ich allerdings auch schon so weit, dass ich mich mit Chopin auseinandersetzen konnte.

Ich habe es so kennengelernt, wie es heute aussieht, aber meine Mutter beklagte seit jeher, dass es so ein wunderschönes Jugendstilklavier gewesen sei, bevor mein Vater, der Jugendstil nicht mag, alle floralen Elemente auf beweglichen Teilen des Pianos von einem Schreiner entfernen ließ. Auch die beiden Kerzenhalter, denn es ist ein wirklich altes – und ehrwürdiges – Klavier. Ein Klavierstimmer, der vor einigen Jahren an ihm tätig wurde, als es einen gewissen Dämpfklang aufwies, wollte es meinen Eltern abkaufen, denn er identifizierte es als echtes Zimmermann-Klavier aus Leipzig, das um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert gebaut worden sei. Er war begeistert, monierte lediglich die Tatsache, dass die floralen Jugendstil-Elemente beseitigt worden seien. Meine Mutter lachte dreckig, mein Vater überging den Einwand und erklärte, das Klavier sei nicht zu verkaufen. Der Klavierstimmer bedauerte dies – so ein schönes, altes Instrument, das nach der Stimmung wieder hervorragend ohne Dämpfklang funktioniere! Und er setzte sich an das Piano und spielte einige gefällige Läufe, wobei er meinte, es mache Freude, auf dem so gut erhaltenen und gepflegten Instrument zu spielen. Wenn meine Eltern es sich anders überlegen sollten – sie hätten ja seine Kontaktdaten.

Als meine Mutter mir davon erzählte, rief ich: „Nein, nicht verkaufen!“ – „Aber man musste dich doch früher fast ans Klavier prügeln, bevor du übtest!“ (Zur gefälligen Kenntnis: Ich bin niemals geprügelt worden – und schon gar nicht ans Klavier. Musik soll Freude machen, und das hat man mir auch so vermittelt. Und irgendwann griff der Ehrgeiz. 😉) „Ja, aber ihr könnt das Klavier doch nicht verkaufen! Ich hänge daran! So viele Stunden habe ich daran gesessen, voller Frust, manchmal aber auch mit Spaß! Bitte nicht abgeben!“

Damals meinte meine Mutter schon: „Dann musst du es aber auch irgendwann übernehmen. Wir werden nicht jünger, und einer muss dann das Klavier nehmen.“ – „Ja, ist doch kein Problem! Stephanie hat doch schon Opas Klavier übernommen – dann nehme ich das hier! Ich dachte, das sei klar.“

Und heute kam das Thema erneut zur Sprache. Was ich etwas spooky fand, war die Tatsache, dass ich vor zwei, drei Tagen daran denken musste, was mit dem Klavier werden würde, wenn dereinst mein Elternhaus möbeltechnisch reduziert werden würde (meine Mutter liebt seit einiger Zeit möglichst leere Räume). Keine Ahnung, wie ich darauf kam – ich finde es vor dem heutigen Hintergrund auch ein wenig gespenstisch. Noch gespenstischer, dass ich schon darüber nachgedacht hatte, wie man hier im Wohnzimmer die Möbel derart zusammenrücken könne, dass das Klavier einen geeigneten Platz finden würde. Meine Mutter und ich scheinen telepathisch verbunden zu sein – oder so etwas Ähnliches. 😉

Heute eröffnete sie mir beim Kaffee den Plan zum Klavier: „Ali, hast du Interesse an diesem Klavier?“ – „Ja, sicher – habe ich doch immer gesagt!“ – „Und wohin willst du es dann stellen?“ – „Für das Klavier wird sich Platz finden!“ – „Ansonsten wird es zerlegt und dann zum Wertstoffhof gebracht.“

Ich schnappte nach Luft, dann rief ich: „Mama! Das ist ein Musikinstrument und keine olle Kommode!“ (Man muss dazusagen, dass meine Mutter selber das Klavierspielen beherrscht und kulturbewusst ist – und dann so ein Vorschlag! Ich war entsetzt!) Sie grinste und sagte: „Ja, und?“ – „Das ist ein Musikinstrument, Mama! Das derart zu behandeln, ist Frevel! Das ist, als würde man Bücher zerstören – das geht gar nicht! Ich werde Platz finden – und dann kommt es zu mir!“ – „Was willst du mit dem völlig verstimmten Ding?“ – „Man kann es stimmen lassen, und dann fange ich wieder mit Spielen an! Auf keinen Fall wird es brutal entsorgt – das geht gar nicht!“

Meine Mutter grinste noch mehr. Mein Vater atmete auf. Er hatte die Unterhaltung mit Unbehagen verfolgt – er hängt auch an dem Klavier.

Ich habe eigentlich gar keinen Platz für das Klavier, aber ich werde welchen schaffen. Und irgendwie habe ich den Eindruck, dass ich genauso reagiert habe, wie es auch meiner Mutter recht ist. 😉

Und das Schönste: Ich werde wieder mit dem Klavierspielen anfangen. Obwohl ich das ja nie hatte lernen wollen, fehlte etwas. 😊

Ein Klavierstimmer, der bestenfalls auch noch Klavierbauer ist, sollte allerdings schon her: Die Taste ganz links klemmt, und der angeschlagene Ton erzeugt einen derartigen Dämpfklang, dass man gar kein Pedal benötigt, ihn zu erzeugen. Aber das darf ein Klavier-Senior auch. 😉 Man kann es leicht beheben lassen.

In den nächsten Tagen überlege ich, wie man das Piano hier am besten unterbringen kann. Alles, nur keine Entsorgung! 😊

„Mutter, wir danken dir.“ – „Ein Klavier! Ein Klavier!“ Loriot lässt grüßen … 😉

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