Bisweilen erinnert man sich aufgrund eines bestimmten Ereignisses – egal, ob lustig, traurig oder gar tragisch – an Vergangenes. Und auch ich wurde kürzlich davon eingeholt. Danach war ich wehmütig, ein Zustand, den ich nach Möglichkeit zu vermeiden trachte. Nur lässt er sich nicht immer vermeiden. Besonders weise Menschen würden nun sagen, dass das Leben so sei – wer aber wüsste das nicht selber …
Es begab sich vor einigen Jahren im September, dass ich eine Tätigkeit als lehrbeauftragte Dozentin in Nebentätigkeit an einer Hochschule in einer der Städte in der näheren oder weiteren Umgebung antrat. Da ich zu dem Zeitpunkt bereits seit zwei Jahren mit Erfolg an einer Uni hier im Pott Studis quäl…, nein, ausbildete, hatte man mich sehr gern engagiert, und trotz einiger Unterschiede zwischen den „Lehranstalten“ erinnere ich mich gern an beide. 😊
Warum man mich jedoch zuvor zu einem Beratungstermin gebeten hatte, um meine professionelle Meinung dazu zu hören, wie denn solch ein fachsprachliches Seminar am besten zu gestalten sei – wobei man viel Wert auf meine Erfahrung zu legen schien -, und mir dann doch insgesamt über 50 Studis in einem Kurs vor die Nase setzte, obwohl ich kleine Gruppen empfohlen und entsprechende Zahlen genannt hatte, die nicht zu überschreiten seien, erschließt sich mir bis heute nicht. 😉 Die Hochschule war aber noch brandneu – vielleicht lag es daran. 😊
Recht schnell stellte sich heraus, dass der Job, gutbezahlt, erheblich stressiger war als der vergleichbare an der Uni, und ich frotzelte, dass das vergleichsweise hohe Honorar wohl eher Schmerzensgeld sei. 😉 Die Studis in der Gruppe oder – besser – Masse in diesem Seminar doch besonders „lebhaft“, um es mal so zu nennen.
Einige schienen den Sinn und Zweck einer Hochschule noch nicht so recht verinnerlicht zu haben – vielleicht gefiel ihnen auch der Inhalt meines Seminars nicht. (Im Vertrauen: Mein Lieblingsthemenbereich war er wahrlich auch nicht, ich aber zum Glück professionell genug, mir das nicht anmerken zu lassen. Wenn ich daran denke, wie fröhlich ich immer vorn im großen „Seminarraum“ herumsprang und den Studis Dinge beizubringen trachtete, die ich selber fad fand, mir das aber nicht anmerken lassen durfte, muss ich heute noch grinsen. 😉)
Zweimal pro Woche hetzte ich von meiner Hauptarbeitsstätte mit dem ÖPNV an diesen Ort, von dem ich einmal in der Woche dann auch direkt im Anschluss mit dem ÖPNV an die oben genannte Uni rasen musste – das Seminar dort dann die reine Erholung. 😉
Denn nicht wenige meiner „Zöglinge“ an der neuen Hochschule waren anstrengend. Da wurde gequasselt, was das Zeug hielt, man befasste sich mit dem Handy, dem Netbook, und man störte damit nicht nur mich, sondern auch diejenigen, die mitmachen wollten. Die waren zwar in der Mehrheit, aber gegen stetes Gequassel und weitere Dinge dieser Art hatten auch sie keine Chance.
Ich versuchte es zunächst mit Vernunft. Dann mit Sarkasmus. Ich sagte: „Einige von Ihnen scheinen mit dem Thema Hochschule noch überfordert zu sein. Aber ich habe eine tolle Idee! Da wir hier ja einen besonders großen Raum haben, schlage ich vor, dort hinten rechts eine Spielecke für diejenigen einzurichten, die sich noch nicht so lange am Stück konzentrieren können.“ Da waren die Angesprochenen empört und verkündeten, dass sie durchaus erwachsen seien. Ich grinste und meinte: „Im biologischen Sinne ist dies sicherlich zutreffend.“
Nichts half bei diesen Studis, und während einer „Sitzung“ ist mir dann der Kragen geplatzt, und ich tat etwas, das ich nie hatte tun wollen und nie zuvor getan hatte (und danach nie wieder getan habe): Ich brüllte die Seminargruppe derart an, dass man es besser wahrheitsgemäß so definiert, dass ich sie extrem heftig zusammenschiss. Die Worte „Kindergarten“, „infantil“, „Unverschämtheit“ und „Rücksichtslosigkeit“ wie auch „sondergleichen“ fanden Erwähnung in meiner erstaunlichen Arie bzw. Suada. Und nicht nur diese – es war eine lange Suada, eine sehr laute dazu. Es reichte einfach.
Immerhin hatte diese zur Folge, dass sie mit großen Augen und völlig sprachlos dasaßen. Und während meine Pulsfrequenz langsam wieder abfiel, sortierte ich meine Stimmbänder und meinte schließlich: „Sehr schön. Dann können wir ja wohl weitermachen. Eines nur: Sie haben mich zu etwas gebracht, das ich nie tun wollte. Darauf sollten Sie nicht stolz sein. Ich bin es jedenfalls ganz und gar nicht.“
Nach der Veranstaltung kamen einige Studis zu mir und wollten mit mir sprechen. Es waren naturgemäß ausschließlich Studis, die ohnehin schon mitmachten. Einer sagte: „Wow, Frau B.! Wir hätten nicht gedacht, dass Sie so brüllen können – das war cool! Und auch gerechtfertigt. Wir wollten Ihnen nur sagen, dass wir Sie unterstützen – wir sind die Mehrheit. Und wir machen das gewiss nicht nur der Noten wegen. Wir mögen Sie und finden, dass Sie das wirklich toll machen. Wir wollten Ihnen nur sagen, dass Sie auf uns zählen können. Zur Not schmeißen wir die anderen demnächst raus!“ Ich sah mir die Studis an – einige davon baumlange und kräftige Jungs – und fing zu lachen an. „Ich komme eventuell darauf zurück, hoffe dennoch darauf, dass man mit Vernunft agieren kann,“, meinte ich und kniff ihnen ein Auge zu.
Das Seminar lief danach aber recht geschmeidig, nachdem ich in der nächsten Sitzung zu Anfang ein paar deutliche Worte abgelassen hatte: dass mir klar sei, dass der Themenbereich nicht unbedingt der spannendste sei, man aber doch im Sinne einer guten Gemeinschaft bitte an einem Strang ziehen solle und sie nicht mehr in der Schule seien. Und sie sollten bitte nie vergessen: Auch ich müsse da durch … 😉
Danach hatte ich die beste Seminargruppe aller Zeiten, und als es dann zum Ende des zweiten Semesters ging, ich alle ihre Seminararbeiten korrigiert und ihnen die Noten mitgeteilt hatte, wobei ich natürlich die Möglichkeit gab, Einsicht zu nehmen und ein persönliches Gespräch zu führen, fragte einer der Teilnehmer, ob wir denn nicht zum Abschluss im Rahmen dieses Seminars eine kleine Grillparty machen könnten – es sei doch ihr erstes Jahr gewesen, und wir hätten uns doch letzten Endes auch alle gut verstanden. Ich meinte: „Sofern Sie mich nicht grillen wollen – ich bin dabei, wenn Sie die Erlaubnis einholen, hier auf dem Gelände zu grillen und auch Alkohol zu trinken. Ich spendiere einen Kasten Bier. Da Sie ja alle schon groß sind, vertraue ich Ihnen diese Aufgabe an, denn Sie wissen ja, dass ich dafür keine Zeit habe, da ich ständig auf dem Sprung bin. Suchen Sie von daher einen Tag aus, an dem ich meinen Nebentätigkeiten nicht nachgehe.“
Das taten sie auch, und so trafen wir uns an einem Freitagmittag auf dem Hochschulgelände. Als ich eintraf, war das Gelage schon in vollem Gange: Einige spielten „Flunkyball“ und wollten mich sogleich zum Mitspielen zwangsverpflichten. Ich rief, dass ich eine absolut miese Werferin sei, dafür aber eine hervorragende Zuschauerin und außerdem erst einmal mit ein paar Jungs und Mädels zur nahegelegenen Tanke müsse, den versprochenen Kasten Bieres käuflich zu erwerben, und so kam ich davon. Und schon eilte ich mit Julius, Thomas, den alle nur Tommek nannten, Sven und Timo gen Tanke. Zurück kamen wir mit zwei Kästen Bier, einer davon von mir bezahlt, Chips und einer Flasche Wodka nebst Softdrinks. Nicht, dass der ohnehin schon vorhandene Vorrat allzu schnell zur Neige ginge … 😉
Wir wurden unter großem Hallo begrüßt und nahmen Platz: erst einmal ein Begrüßungsbier für die bisweilen brüllende Dozentin … 😉
Kaum saß ich, klebte sich ein bis dato amüsanter, netter und sympathischer Studi an meine linke Seite. Aber er belaberte mich, dass er mit seiner Note für die Seminararbeit nicht zufrieden sei. Ich sagte ruhig und sachlich: „Nun, Sie haben mit einer Drei doch eine annehmbare Note bekommen.“ – „Aber ich bin nicht zufrieden damit.“ – „Das mag sein, das verstehe ich auch. Aber die Dinge sind, wie sie sind, und ich gedenke auch nicht, hier über Noten zu diskutieren, die ich beileibe nicht nebenbei und aus Spaß so vergeben habe, wie es geschehen ist. Sie hatten mehrere Wochen Zeit, mich während des Semesters zu kontaktieren. Sie hätten Einsicht nehmen können – das Angebot bestand von meiner Seite und wurde wiederholt so kommuniziert. Sie sind aber nicht gekommen oder haben sich bei mir gemeldet. Sie haben die Gelegenheit versäumt – das Semester ist vorbei, und ich bin heute als Privatperson hier. Es gab eine längere Zeitspanne, sich bei mir zu melden, und wir hätten in Ruhe sprechen können, obwohl ich sagen muss, dass Ihre Arbeit eine Drei ist und ich auch nicht zaubern kann. Jetzt aber nicht mehr, und schon gar nicht zu dieser Gelegenheit.“ Der Studi klagte mir sein Leid – seine Eltern seien mit dem Ergebnis auch nicht zufrieden. Ich blieb standhaft und meinte, es sei hinreichend Zeit und Möglichkeit gewesen, mich anzusprechen, und es sei seine Note und nicht die seiner Eltern. Er sei erwachsen. Es mag herzlos klingen, war es aber beileibe nicht. Irgendwo gibt es Grenzen, und ich hatte über mehrere Wochen Gelegenheit für ein Gespräch geboten.
Der Studi hatte wohl vor meinem Eintreffen schon einiges an Alkohol und anderem konsumiert, und ich spürte, dass er wohl innerlich immer aggressiver wurde. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, obwohl ich mir sicher war, von meiner Entscheidung nicht abzuweichen. Nicht, weil ich stur oder rechthaberisch wäre, nein. Nur gab seine Arbeit wirklich nicht mehr her. Ich wiederholte, ich sei als Privatperson da und sah mich vorsichtig in der Runde um, in der wir saßen. Da saßen noch immer Sven, Julius, Timo und Tommek gegenüber und neben uns, die zuvor noch versucht hatten, vom Gesprächsthema abzulenken. Ich versuchte unauffällig, Blickkontakt aufzunehmen, weil mir mulmig zumute war und ich befürchtete, der unzufriedene Studi könne mir eins auf die Zwölf hauen, aber das gelang nicht: Die vier saßen sehr angespannt und hochkonzentriert auf der äußersten Kante ihrer Sitzgelegenheiten. Ich sah noch einmal genau hin: Sie saßen wirklich unter großer Spannung da, als würden sie jeden Moment abgeschossen werden, und da begriff ich: Sie schätzten die Situation wohl ähnlich ein wie ich und waren quasi sprungbereit, sollte ihr Kommilitone übergriffig werden! Sie erinnerten mich an meine beiden früheren Katzen, wenn die ein Objekt fixierten, auf das sie sich nach langer Tarnung stürzten. Da fühlte ich mich etwas besser, und glücklicherweise haute der unzufriedene Studi dann auch ab: seine Bierflasche war leer, und die nächste Ladung Würstchen auf dem Grill war fertig …
Ich blickte in die Runde, in der sich die vier Jungs wieder bequem zurücksetzten: „Was war das denn jetzt gerade? Ich hoffe, dass das nicht so weitergeht!“ – „Keine Sorge, Frau B. – wir passen auf Sie auf! Der hat sich ja gerade so blöd benommen, dass wir Sorge hatten, der würde gegen Sie übergriffig werden, Ihnen gar eine knallen! [Genau das war auch meine Befürchtung gewesen.] Aber keine Sorge! Wir hätten den sofort unschädlich gemacht!“ – „Das fiel mir schon auf – herzlichen Dank, ich weiß das zu schätzen!“ Und Tommek meinte: „Keiner von uns würde zulassen, dass jemand unserer Frau B. etwas tut!“ Ich war gerührt, und da die Studis nun nicht mehr als „Abhängige“ galten, bot ich ihnen allen, die schon öfter nachgefragt hatten, ob das nicht möglich sei, das Du an. Immerhin würde ich sie ja nicht mehr unterrichten.
Das stimmte dann zwar nicht, da Tommek und Timo auch noch einen allgemeinsprachlichen Sprachkurs bei mir besuchten und mich in selbigem auch brav siezten, sofern überhaupt Deutsch gesprochen wurde – also zu Anfang und gegen Ende der jeweiligen Stunde. Ich war erstaunt, dass sie überhaupt kamen und meinte: „Da machen Sie freiwillig noch einen Englischkurs bei mir?“ Und die beiden meinten: „Ja, man kann nicht genug Englisch können – und bei Ihnen macht das wenigstens Spaß, und wir sehen Sie so außerdem noch öfter.“ Ich war schon wieder gerührt.
Und nun erfahre ich über ein Soziales Medium, dass Tommek tot sei. Dabei gehörte er gar nicht einmal zu den Ex-Studis, mit denen ich bis heute Kontakt habe. Ich erfuhr es durch Zufall, und es war, als hätte man mir einen Baseballschläger ins Gesicht geschmettert. Mir wurde schlecht, als ich es las. Ich wollte es erst gar nicht glauben.
Dabei habe ich all die Studis seit geraumer Zeit nicht gesehen, aber man vergisst sie doch auch nicht. Daher arbeite ich ja auch so gern mit Menschen. Aber manchmal hat das seine Schattenseiten.
Ruhe in Frieden – ich kann es immer noch nicht fassen. ☹