Ich bin ja ein Fan ausgleichender Gerechtigkeit, auch wenn ich weiß, dass das im Großen ein schöner Wunschtraum ist.
Im Kleinen funktioniert das aber manchmal. Zumindest dann, wenn zwei „Parteien“ aufeinandertreffen, von denen mindestens eine, wenn nicht gar beide ein gutes Gedächtnis ihr eigen nennen. 😉
Die Sache mit der „Geschwisterliebe“ halte ich manchmal für ein Gerücht. Meine Schwester Stephanie sicher auch – wie auch unzählige andere Geschwisterkinder. Und doch verbindet einen eine Menge, auch wenn man das „Geschwisterkind“ manchmal am liebsten erwürgen würde, mindestens aber massive Zweifel an jedweder Blutsverwandtschaft hegt.
Es begab sich zu der Zeit, da ich gerade in den letzten Zügen der Grundschule lag – kurz vor dem Wechsel auf die sogenannte „weiterführende Schule“. Stephanie war in Klasse 7 auf dem Gymnasium, das ich dann auch später besuchen sollte. Und sie hatte gerade mit der zweiten Fremdsprache begonnen. Cool! Fremdsprache war damals für mich im wahrsten Sinne fremd – ich sprach, las und verstand nur Deutsch. Und sie war mir weit voraus, sprach nicht nur Englisch, sondern nun auch noch Französisch! 😉 Sie sprach ohnehin immer sehr viel, nun auch noch in zwei anderen Sprachen – das nervte mich! 😉
Irgendwann Ende Oktober des damaligen Jahres riefen mein Onkel und meine Tante an und luden sowohl Stephanie als auch mich zur Soester Kirmes ein, auch als Allerheiligenkirmes bekannt und daher Anfang November stattfindend. Im Jahr zuvor waren wir schon mit ihnen dort gewesen, und das war total klasse gewesen – da wollten wir doch wieder mit. Zumal wir immer mit einer ganzen „Mannschaft“ hingingen, mit Bekannten und Freunden meines Onkels und meiner Tante. Diesmal sollte auch noch die Tochter eines Freundes meines Onkels mitkommen, mit der Stephanie befreundet war: Sandra. Ebenso ihre ganze Familie, die gerade die ganze Austauschfamilie Sandras zu Besuch hatte, denn Sandra hatte zuvor einen Schüleraustausch nach Frankreich gemacht. Sie war ein Jahr eher eingeschult worden als Stephanie. Es versprach, ein besonders interessanter Kirmesbesuch zu werden.
Ein wenig verunsicherte mich, dass ich ja keine einzige Fremdsprache beherrschte – und es sollten insgesamt fünf Menschen dabei sein, die ausschließlich die französische Sprache sprachen. Ich würde mich nur mit Händen und Füßen verständigen können – nicht optimal. Fand auch Stephanie. Aber da sie ja nach einem halben Jahr Französischunterrichts so etwas wie ein Profi war, wusste sie auch sogleich, Abhilfe zu schaffen …
„Alichen, was machen wir nur mit dir? Du kannst mit den Franzosen ja nicht einmal sprechen!“ rief sie in besorgt wirkender Attitüde und fügte sogleich hinzu: „Und das wirkt ja immer ein bisschen so, als wäre man total doof, nicht wahr?“
O Gott! Ich wollte nicht doof wirken, nur weil ich keine einzige Fremdsprache beherrschte! Zum Glück wusste Stephanie Abhilfe! Und vertrauensvoll sagte sie zu mir: „Ich kann dir ein paar Sätze beibringen, damit du wenigstens etwas sagen kannst! Natürlich musst du die Sätze auswendiglernen und kannst nicht ganz frei sprechen!“ Und sie gerierte sich, als sei sie Guy de Maupassant höchstpersönlich! 😉
„Pass auf, Ali! Wenn du einer der Französinnen [die Austauschfamilie bestand aus Vater, Mutter und drei Töchtern] sagen möchtest, dass die Kirmes total schön sei, sagst du einfach: ‚Devant la maison, il y a un camion.‘ Sprich mir nach!“
Ich vertraute meiner Schwester und übte bis zur gefühlten Gesichtslähmung diesen Satz, der da heiße: „Die Kirmes ist toll, ne?“ Oder so ähnlich.
Irgendwann war Stephanie zufrieden, und sie meinte: „Und wenn du fragen willst, ob eine der Französinnen mit dir Autoscooter fahren möchte, fragst du einfach: ‚Est-ce que tu aimes danser avec moi?‘“ Ganz geheuer war mir das Ganze nicht, aber Stephanie sah ernst drein – und Fremdsprachen zu lernen, war ja nie falsch, nicht wahr? Und ich übte und übte.
Irgendwann kam meine Mutter dazu, und sie hörte genau hin. Dann fragte sie: „Ali, weißt du denn, was das bedeutet, was du da so schön sagst?“ – „Ja!“ rief ich stolz, und ich erklärte meiner Mutter, was Stephanie mir dazu gesagt hatte, die plötzlich behauptete, einen wichtigen Termin zu haben … Und schon wollte sie die Biege machen, aber meine Mutter rief: „Stop! Hiergeblieben! Findest du es in Ordnung, deine Schwester vorzuführen, indem du ihr französische Sätze beibringst, von denen du behauptest, dass sie etwas ganz anderes bedeuteten?“ Stephanie lachte und meinte, das sei doch lustig, während ich verärgert fragte, was das denn wirklich heiße. Meine Mutter erklärte mir – und es zuckte um ihre Mundwinkel -, dass Devant la maison, il y a un camion bedeute: Vor dem Haus steht ein Lastwagen. Und der andere Satz, die Frage: Est-ce que tu aimes danser avec moi, sei die Frage, ob der/die Angesprochene mit mir tanzen wolle. Nix mit Autoscooter! 😉
Doch bevor ich mich zornentbrannt auf meine Schwester stürzen konnte, packte meine Mutter mich am Schlafittchen und sagte mir: „Das war ein Scherz! Ein blöder und unfairer, zugegeben, aber kein Grund, sich zu prügeln – ist das klar?“ Und zu Stephanie sagte sie: „Total klasse, Stephanie – ich bin stolz auf dich … Vielleicht ist es Strafe genug, wenn ich dir sage, dass deine Schwester diese Sätze sehr schön ausgesprochen hat und die Aussprache schneller heraushatte und beherrschte als du!“ Da war sofort Ruhe im Karton. Ich habe eine coole Mutter. 😉
Die Soester Kirmes war toll, und in einem Fahrgeschäft saß ich neben Marie-Anne, der ältesten französischen Tochter, einige Jahre älter als ich. Das Fahrgeschäft war eine echte „Kotzschleuder“, und wir brüllten uns beide die Seelen aus dem Leib – unartikuliert. Und wir klammerten uns aneinander und verstanden einander ohne Worte – hier ging es ums blanke „Überleben“! 😉 Das geht auch ohne Sprache, ob gemeinsam oder nicht. Und danach nannte Marie-Anne mich „amie“ und ich sie „Freundin“, und wir verstanden einander ohne Worte, mehr mit Gesten und Mimik. Ging doch!
Später waren wir alle noch in einem Restaurant, und ich saß neben Annabelle, der jüngsten Französin, so alt wie ich. Sie war irgendwann müde und sagte zu ihrer Mutter: „Je suis fatiguée!“ Da man ihr diesen Zustand deutlich ansah, verstand ich sofort, und: „Ich bin müde!“ war dann der erste Satz, den ich auf Französisch verstand. 😉
Meine Schwester hat mir jedenfalls nie wieder fremdsprachige Sätze beigebracht. 😉
Aber umgekehrt war es auch nicht besser. Nur, dass ich mir die Gelegenheiten aufsparte. 😉
Irgendwann während unserer Studienzeit hatte meine Schwester, mit der ich mir zu Beginn meines Studiums die Wohnung teilte – nicht lange, da wir einfach zu verschieden sind -, jemanden kennengelernt, von dem sie mir begeistert erzählte und mit dem sie mehrfach telefonierte und verabredet war, bevor ich ihn kennenlernte.
Ich kam eines Tages nach der Uni und nach dem Einkaufen nach Hause, und in unserer Wohnküche saß da jemand, den ich nicht kannte, mir allerdings an zwei Fingern ausrechnen konnte, dass es sich wohl um den sagenumwobenen Volker handeln musste, zumal meine Schwester besonders liebreizend daherparlierte. 😉
Ich hatte ihr ein Eis mitgebracht und sagte: „Sieh mal, Stephanie, ich habe dir ein Eis mitgebracht!“ – „Ja, danke – leg es ins Eisfach …“ Es war so klar wie Kloßbrühe, dass sie mich dringend loswerden wollte. 😉 Im Normalfalle hätte ich das Feld auch geräumt, aber wir hatten morgens noch ziemlichen Zoff gehabt, und ich hatte mich massiv geärgert, da sie einmal mehr die Allwissende gemimt hatte, obwohl sie nicht recht gehabt hatte. Pech gehabt, jetzt! 😉
Und als hätte ich nichts gemerkt, setzte ich mich sogleich auch an den Tisch, sah Volker unverhohlen an und meinte: „Du musst Volker sein! Nicht wahr?“ – „Ja. Woher weißt du das?“ – „Ach, das ist gar nicht schwer! Stephanie hat derart von dir geschwärmt, dass der Fall ganz klar ist! Aber sie hat recht! Du siehst wirklich gut aus und scheinst in der Tat nett zu sein!“ Volker grinste, und Stephanie hatte mit einem Mal einen derart knallroten Kopp, dass ich mir fast ein wenig Sorgen machte: Das sah echt ungesund aus. Und so meinte ich abschließend noch: „Oh!“ und legte meine Hand auf den Mund, als wäre mir da etwas herausgerutscht, das nicht hätte herausrutschen dürfen. 😉
Ich gebe zu, das war gemein. Aber die beiden kamen dennoch zusammen, zumal Volker laut meiner Schwester meinte: „Deine Schwester ist, glaube ich, ein Schlitzohr. Das hat sie doch mit Absicht gemacht!“ – „Ja, wir hatten Krach, und ich war wohl doof zu ihr.“ – „Na, dann ist das doch eine sehr gelungene Retourkutsche gewesen. Ich konnte jedenfalls sehen, dass ihre Augen funkelten, und mir war der Sinn und Zweck der Maßnahme klar. Aber ich fand es einfach nur sympathisch – keine Sorge.“ Und meine Schwester meinte hinterher noch zu mir: „Ich muss dir wohl noch dankbar sein! Ohne deinen liebreizenden Einsatz hätte das noch Wochen ohne Ergebnis weitergehen können.“ Na, da hatte mein etwas nickeliger Einsatz doch zu etwas Positivem geführt! 😉 Und seitdem war Stephanie auch immer etwas vorsichtiger mit mir. 😉
Man sieht: Ältere Schwestern können ätzend sein. Jüngere aber auch. 😉 Und es lohnt sich stets, Fremdsprachen zu erlernen. Und das am besten so früh wie möglich.