„Many years ago …“ – Brieffreundschaft etwas anders als früher

Kürzlich überflutete mich eine Welle der Nostalgie. Ich liebe es, Briefe zu schreiben, mit der Hand. Ich bin ohnehin ein bisweilen recht sentimentaler Mensch, wenngleich ich das nach Möglichkeit gegenüber meiner Umwelt zu verbergen trachte. 😉

Ich hatte vor Jahren eine wunderbare Brieffreundin – ich berichtete bereits. Die Brieffreundschaft begann, als ich in der Mittelstufe war, und ich nahm sie mit ins Studium. Und möglicherweise würden wir einander noch heute schreiben, wäre meine amerikanische Brieffreundin nicht im Alter von 21 Jahren gestorben. Woran, weiß ich bis heute nicht, und irgendetwas sagt mir, dass ich es vielleicht auch gar nicht wissen möchte.

Nach ihr hatte ich keine Brieffreundin mehr, mit der ich meine Gedanken besser teilen konnte als mit Menschen, die bisweilen neben mir standen oder saßen. Zu groß der Schock des Verlusts, der allerdings auch dafür sorgte, diese über Kontinente gehende Verbundenheit niemals zu vergessen.

Neulich erzählte ich meiner Kollegin Jana davon. Und sie sagte: „Warum keine neue Brieffreundschaft suchen?“ Sie hatte Recht, und ich suchte im Internet nach Institutionen, die solcherart „Verbindungen“ vermitteln.

Rasch wurde ich fündig. Und meldete mich an. Ich konnte mir sogar aussuchen, ob ich lieber per Mail oder per snail mail, also auf dem normalen Briefpostweg korrespondieren wolle. Und schon erschuf ich mein Profil, schrieb eine kleine Einführung, natürlich auf Englisch, denn es ist eine internationale Seite. 😉

Die Technik streikte ein wenig, als ich meine wunderbare Einleitung posten wollte. Etwa eine halbe Stunde rang ich mit den Elementen, und kaum war es endlich geschafft, sah ich, dass sich bereits jemand gemeldet und mir eine Nachricht hinterlassen hatte. Hui – das ging hier ja schnell! 😉

Ein Mann war es, der da etwas zurückhaltend-schüchtern anfragte, ob ich vielleicht mit ihm korrespondieren wolle. Und – Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage! – er kam aus dem Vereinigten Königreich! 😉 Genauer: aus Cornwall, einem Landesteil, den ich noch nie besucht, von dem ich aber gehört habe, dass er einfach nur umwerfend sei. Ich habe mich bis dato immer zurückgehalten, dorthin zu reisen, seitdem so viele Deutsche dies tun, nachdem vor vielen Jahren die ersten Verfilmungen von Rosamunde-Pilcher-Romanen Einzug im deutschen Fernsehen hielten. Seitdem reisen viele Deutsche an die verschiedenen Tatorte (auch Schottland ist betroffen). 😉 Ich würde ja auch gern, aber ich reise so gern, weil ich mir die Menschen und Kultur vor Ort ansehen möchte, nicht, um dort auf halb Deutschland und Menschen zu treffen, die wer weiß was von diesen Orten erwarten, als wären es Pilgerstätten. Oder meinetwegen Pilcherstätten. 😉

Ich konnte nicht sofort ausschweifend antworten. Ich war noch bei der Arbeit, schrieb aber kurz, es freue mich, dass er sich gemeldet habe, und ich würde nach Feierabend mehr schreiben.

Zu Hause sah ich mir sein Profil an und beschloss, umgehend zurückzuschreiben, denn was da stand, fand ich total interessant: freischaffender Orchestermusiker stand da neben anderen Dingen, und das Instrument, das er spielt, überzeugte mich definitiv. Jemand, der aus Überzeugung Bratsche spielt und nicht Violine und damit unter Umständen die erste Geige, kann nur auf interessante Weise anders sein. Fand ich, zumal Bratsche in der Tat ein besonderes Instrument ist. Gehört zur Familie der Streichinstrumente und Geigen, wird in gleicher Haltung gespielt wie eine Violine, ist jedoch etwas größer, und während sich die Violine stets wie der Sopran im Chor laut und mit bisweilen metallisch-klarer Qualität vordrängt, verhält sich die Bratsche stets – wie der Alt im Chor – zurückhaltend, ist aber unverzichtbar sowohl im Orchester, als auch im Streichquartett. Und als Soloinstrument ist sie ganz anders als eine Violine: Eher melancholisch klingt sie, gewissermaßen nachdenklich, und man denkt an Torfmoore, Rauch von Torffeuern und nebelverhangene Landschaften. Wer einen Sinn für Verwunschenes hat, wird die Bratsche wohl mehr schätzen als die grelle und vornehmlich fröhlich-heiter klingende Violine.

Und so dachte ich, dass es sicherlich interessant sei, mit einem Bratschisten aus Cornwall Mails auszutauschen und fing daher gleich damit an.

Aber kaum kam die erste Antwort, wurde es noch besser: Der Bratschist ist gar kein Engländer. Es wurde noch verwunschener … 😉 Der Bratschist ist Waliser! 😉 Ich kenne die meisten Teile des Vereinigten Königreichs – bis auf Nordirland und Wales. Wales fand ich immer irgendwie verwunschen – es mag an der Sprache liegen, die mit Wörtern mit erstaunlich vielen Konsonanten aufwartet, einige davon in Dopplung, teils – zumindest gefühlt – ohne jedweden Vokal. Es mag allerdings auch daran liegen, dass nur ganz besondere Menschen und nicht die halbe Welt nach Wales in den Urlaub reisen. Wales war bis dato für mich auch terra incognita. Der einzige Waliser, den ich persönlich kennenlernte, war ein Welsh Pony, auf dessen Rücken ich während meiner aktiven Zeit als Reiterin zweimal saß. Ein reizendes Tier, obwohl Schimmel. 😉

Inzwischen lerne ich Tag für Tag mehr und kann sogar den Frauennamen Angharad einigermaßen authentisch aussprechen. 😉

Die Mails gehen hin und her, und es ist bereits zur Gewohnheit worden, obwohl das Ganze erst vor drei Tagen einsetzte, zumal sogar der Humor harmoniert und es diverse Ähnlichkeiten gibt. Mit Erstaunen stelle ich fest, dass ich wieder und wieder zum Rechner renne und nachsehe, ob eine Mail da sei.

Der Bratschist schrieb mir gestern Ähnliches, und dann plauderten wir wieder ein Weilchen und verabschiedeten uns schließlich. Heute würde es weitergehen.

Als ich mich heute früh einloggen wollte, erhielt ich eine Fehlermeldung. Ich versuchte es einige Minuten später. Fehlermeldung. Weitere Versuche ergaben eine Fehlermeldung. Und so ging es über Stunden. Ich wurde nervös. Und ziemlich sickig. Verdammt, was sollte das denn? (Hatte ich schon einmal erwähnt, dass mein zweiter Name Die Ungeduldige ist? Oder, weil es schöner klingt, Impatiens?) 😉

Nach vier Stunden – mein Tagesgeschäft war soweit erledigt – war ich derart aufgebracht, dass ich den Rechner, der nichts dafür konnte, am liebsten mit Schmackes aus dem Bürofenster geworfen hätte. Hui – was war das denn?

Um mich zu beruhigen, hörte ich ein wenig klassische Musik: Johann Sebastian Bachs Cellosuiten BWV 1007 – 1012, arrangiert für Solobratsche … Meine Kollegin starrte mich irritiert an: „Ist alles in Ordnung, Ali?“ – „Pssst! Hör doch diesen Klang!“ Meine Kollegin sah mich besorgt an, und mir wurde die Musik dann auch ein wenig zu düster, und so stellte ich sie ab. Die Seite war noch immer nicht erreichbar.

Glücklicherweise hatte ich dann alle Hände voll zu tun, da ein neuer Schub Arbeit über mich hereinbrach. So soll es sein, und so hatte ich auch gar keine Gelegenheit, nach Neuigkeiten hinsichtlich der allzu spröden Seite zu schauen.

Als ich die Arbeit erledigt hatte, funktionierte die Seite wieder! Und da war auch schon eine Nachricht: Endlich funktioniere die Seite wieder – das sei ja kein Zustand gewesen! Und der Bratschist schrieb, dass er immer unruhiger geworden sei, weil er sich schon so an die Mails gewöhnt hätte, die – so meinte er – seine Tage erhellten. 😉 Ich schrieb zurück, aber nein, mir sei absolut klar gewesen, dass alles beizeiten wieder funktionieren würde, wobei ich mir den Angstschweiß von der Stirn wischte. Ich setzte aber lieber ein Smiley dahinter – was ich ja total selten mache. Und bekam zur Antwort: „I’ve already noticed you have a somewhat wicked sense of humour. I like that very much.”

Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Misstrauisch, wie ich bin, und das nicht grundlos, hoffe ich nur, es ist kein Fake. 😉 Ich vermute allerdings, dass es sich eher um den Austausch zweier ähnlich gestrickter „Spinner“ handle. 😉

Es gab übrigens noch diverse weitere Kontakte – alles Männer, obwohl ich angegeben hatte, dass ich mit Männlein wie Weiblein gleichermaßen gern schriebe.

Wie auch immer: Brieffreundschaften sind heute doch ein bisschen anders als früher. 😉

Und als ich vorhin beim Einkaufen war, ertappte ich mich dabei, dass ich die Kassiererin irrtümlich auf Englisch ansprach (ist mir schon öfter passiert, wenn ich viel Englisch gesprochen oder – wie hier – geschrieben hatte und keine Absicht), die mich sogleich anblaffte: „Hier wird Deutsch gesprochen, ey! Immer diese Ausländer – verstehen kein Wort, erwarten aber, dass man ihre Sprache spricht! Dat geht nich‘ gegen Sie! Abba so gehtet ja nich‘, ne?“ Und sie zwinkerte mir zu, woraufhin ich lieber weiter so tat, als verstünde ich kein Wort … 😉

„Ich liebte ein Mädchen in …“ Oder: „Vorsicht! ‚Feind‘ singt mit!“ 😉

„Ich liebte ein Mädchen in Tegel, die hatte Ohren wie Segel. […] Ich liebte ein Mädchen in Mexiko, die hatt‘ einen runden sexy Po!“

So sang ich voller Inbrunst als Kleinkind. Das war irgendwann in den Siebzigern. Und dummerweise sang ich dergleichen sehr deutlich artikuliert und voller Begeisterung ganz laut bei meinen Großeltern in NRW … Ich habe schon als Kleinkind sehr gern gesungen. 😉

Die Aufregung war groß – woher hatte „die Kleine“ solch ein Lied? Die Aufregung war besonders groß, als ich an die Zeile geriet, die da hieß: „Ich liebte ein Mädchen in Mainz, die war gar keins.“ (Gut, um das zu verstehen, war ich noch zu klein, und auch den Rest des balladenartigen Blödel-Liedes im Schnelldurchlauf – es dauert nur etwa zweieinhalb Minuten – habe ich damals inhaltmäßig bisweilen nicht so recht verstanden, bis auf den mexikanischen Po und die Segelohren in Tegel – glücklicherweise hatten meine sittenstrengen protestantischen Großeltern die zweite Strophe nicht zur Gänze mitbekommen, die da mit: „Ich liebte ein Mädchen in Wedding, die wollte immer nur Petting“ begann … (Was das bedeutete, wusste ich damals auch noch nicht, wie auch so vieles andere in diesem Lied – aber es reimte sich! Naja, zumindest so etwas Ähnliches. 😉 )

Meine Großeltern fragten investigativ, woher ich denn dieses Lied kennte, und meine Antwort erfolgte ebenso inbrünstig wie arglos, und ich bekannte, dass mein Onkel aus Franken und seine Freunde das immer sängen. Und die Mama würde auch immer mitsingen. Große Entrüstung bei meinen Großeltern, die hinsichtlich der angeheirateten süddeutschen Verwandtschaft, speziell jedoch mit meinem etwas unkonventionellen Onkel immer etwas gefremdelt haben. Hätte ich doch gesagt, dass dieses Lied nicht tagtäglich, sondern nur bei Partys intoniert wurde, die meist schon nachmittags begannen, harmlos, so dass auch Kinder zunächst noch daran teilnehmen konnten. Und dass man in Franken nicht derart „geschraubt“ mit Kindern umgehe. Zumindest in meiner Familie nicht. Hätte ich im fränkischen Teil meiner Familie dieses Lied so inbrünstig vorgesungen, hätte man laut gelacht, mich für meinen Mut gelobt und mir dann noch gesagt: „Und den Rrressdd, den lerrrnsdd fei spädä, wennsdd grrößä bist, gell?“

Das Lied hatte ich lange vergessen, nur manchmal schossen mir die Textzeilen mit dem „Mädchen aus Tegel“ und dem „Mädchen aus Mexiko“ durch den Kopf, und dann musste ich immer lachen. Das Lied ist untrennbar mit meiner Kindheit verbunden, und von daher war es für mich immer ein schönes Lied, das gute Laune machte. Gut, nicht zwingend bei meinen Großeltern aus NRW, und der Gedanke daran entlockte mir aus unerfindlichen Gründen immer ein leicht ironisches Grinsen … 😉 Nichts gegen meine Großeltern hier, die ich mochte, aber man kann es auch übertreiben mit dem Entsetzen.

Erst vor drei Tagen wurde mir das Lied wieder präsent, denn ich las, dass sein „Erschaffer“, Ingo Insterburg war sein Künstlername, gestorben sei. Und ich googelte nach dem gesamten Text, las ihn und brach in lautes Lachen aus. Das hatte ich bei meinen liebevollen, aber sittenstrengen Großeltern allen Ernstes gesungen? 😉 Ich verstand ihre Aufregung zwar noch immer nicht, aber ich hatte eine Ahnung, was sie wohl gedacht haben müssen.

Dann rief ich meine Schwester an, und als sie sich meldete, sang ich: „Ich liebte ein Mädchen in Mexiko“. Zum Glück erkannte sie meine Singstimme und sang zurück: „Die hatt‘ einen runden sexy Po!“ Sie hatte Lied und Text offenbar auch verinnerlicht. 😉
Und dann schwelgten wir ein bisschen in Kindheitserinnerungen, zu denen auch dieses Lied und viele schöne Ferien in Franken gehörten. Auch meine Erfahrung hier nach Absingen des Liedes – Stephanie lachte sich halbtot und meinte: „Typisch Ali! Wie konntest du das auch bei Omma und Oppa absingen? Und dann noch fröhlich erklären, dass das in Franken ganz normal sei! Kein Wunder, dass Omma Elisabeth damals so schockiert war, als sie mit uns beiden mit dem Zug nach Franken fuhr, wir von Onkel Christoph in Würzburg abgeholt wurden, der dich und mich mit den Worten: ‚Da seid ihr ja endlich, ihr kleinen Scheißerlein!‘“ empfing! Weißt du noch, wie entgeistert Omma guckte, während wir laut jubelnd zu Onkel Christoph rannten und er uns in den Arm nahm? Omma war völlig verstört! Da bezeichnet man ihre Enkelinnen als Scheißerlein, und die jubeln sogar und stürzen dem vermeintlichen Beleidiger auch noch in die Arme!“ – „Ich fand es passend, dass Omma mal gezeigt wurde, wie es in Franken abgeht und dass das – wenn es auch schräg klingen mag – sehr liebevoll gemeint ist. Eine Lektion in interkultureller Kompetenz!“ – „Erinnerst du dich daran, dass Omma ganz stumm im Auto gesessen hat, auf der Fahrt von Würzburg nach Bamberg? Während du und ich laut lachten und uns freuten, endlich wieder in Franken zu sein?“ – „Ja. Ich glaube, sie hat es nicht verstanden, dass wir nach einer vermeintlichen Beschimpfung auch noch so begeistert auf die Umgebung reagierten. Sie verstand die fränkische bzw. bayerische Art nicht und verwechselte das Ganze mit ungehobeltem Benehmen. Da ist sie ja aber beileibe nicht die Einzige.“

Und ich lachte und sang: „Ich liebte ein Mädchen in Wannsee, die konnte kein’n nackten Mann seh’n!“ Stephie lachte.

Es kommt halt immer auf die Chemie an – und die stimmt bisweilen schon nicht zwischen verschiedenen Regionen eines Landes. Gut – weder Onkel Christoph noch ich waren je die besten Diplomaten … 😉