Heute bin ich schon relativ früh von der Arbeit aufgebrochen – denn ich musste ja noch nach M., eine der Nachbarstädte, wo Janas und mein Niederländisch-Kurs stattfindet. Heute war der vierte Termin, und ich hatte an den Terminen 1 und 3 nicht teilnehmen können, was mich sehr wurmte, denn einmal muss es doch klappen und ich diese Sprache, die ich seit Äonen authentisch zu erlernen wünsche, wirklich from scratch, von der Pike an lernen. Aber es war nicht zu ändern gewesen.
Heute musste ich allein hin, denn Jana ist im Urlaub. Da ich meinen sogenannten Orientierungssinn kenne – und das trotz eines Navis -, fuhr ich nicht auf dem letzten Drücker los. Das führte dazu, dass ich zu früh vor Ort war. Dabei hatte ich mich sogar einmal ein wenig verfahren, weil das Navi übereifrig gewesen war und die sehr freundliche weibliche Stimme mich an einer Stelle hieß, jetzt links abzubiegen, obwohl die richtige Stelle erst einen halben Kilometer später kam, wie ich feststellte, als ich eine mehr oder minder große Schleife fahren musste und mich dann entgegen den Anordnungen der „Dame“ auf dem linken Geradeausstreifen einordnete, als ich an die Stelle kam, an der ich zuvor auf der Linksabbiegerspur gestanden hatte (bevor ich links abbog und dann die redundante Schleife zu fahren gezwungen war).
Ich vertrieb mir die Zeit damit, dass ich in dem Einkaufszentrum, in dem sich die VHS von M. befindet, ein wenig herumflanierte, mir eine Flasche Mineralwasser kaufte und mir das Einkaufscenter, das ich zuletzt besucht hatte, als ich 15 Jahre alt war, genauer ansah. Es war noch deprimierender, als es damals auf mich gewirkt hatte. Manche Dinge werden einfach nicht besser. Inzwischen sind dort in der Hauptsache Läden, die ihre Waren für 1 Euro oder nur geringfügig mehr verticken – aber immerhin auch zwei Drogeriemärkte, in dessen einem ich das Mineralwasser kaufte. Lebensmittelgeschäfte gibt es dort nämlich nicht; zumindest nicht in der Form von Supermärkten.
Danach ging ich auf den größeren Platz vor – oder hinter – dem Einkaufscenter, um erst einmal eine zu rauchen. Auch das deprimierte mich ein bisschen, und so ging ich zurück ins Einkaufscenter und in den Trakt, da sich die VHS befindet. Ich war noch immer viel zu früh, und da der Seminarraum noch nicht aufgeschlossen war, nahm ich im Wartebereich Platz. Alsbald kam Thijs des Weges, grinste und grüßte. Ich grinste ebenfalls und meinte: „Ich neige zu Extremen: Entweder komme ich gar nicht, oder ich bin viel zu früh!“ Er meinte: „Keine Sorge – du hast nicht viel verpasst!“ Und er schloss den Seminarraum auf und ließ mich sowie eine Teilnehmerin, die heute zum allerersten Mal da war, hinein.
Alsbald kam eine weitere Teilnehmerin, die die Neue und mich irritiert ansah und meinte: „Entschuldigung – ich suche meinen Niederländisch-Kurs …“ Ich rief fröhlich: „Dann bist du hier richtig – hier findet der Kurs statt!“ Sie sah mich noch irritierter an (klar, ich war zweimal nicht dagewesen), aber ich meinte: „Ich war zweimal nicht da! Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht an mich. Habt ihr hier eigentlich feste Sitzplätze?“ – „Ja, da drüben sitzen immer die beiden Arbeitskolleginnen [ich hatte mich frevelhafter Weise auf einen anderen Platz gesetzt …] …“ – „Ah! Okay, dann setze ich mich mal um, denn ich bin die eine der beiden Arbeitskolleginnen!“ – „Ach, jetzt sehe ich es! Ja, klar! Du bist Ali! Sorry, ich habe ein ganz grauenhaftes Personengedächtnis! Aber deinen Namen habe ich mir gemerkt, weil man ihn oft für einen Männernamen hält.“ – „Ist doch kein Problem, und ich habe bis jetzt ja auch zu zwei Dritteln gefehlt! Wie soll man sich da ein Gesicht merken?“
Allmählich trudelten auch die anderen Teilnehmer ein, und dann kam auch Thijs dazu, und der Unterricht begann.
Beim letzten Mal hatten sie besondere medeklinkers behandelt, Konsonanten, die umgangssprachlich im Deutschen auch Mitlaute heißen, im Niederländischen eben medeklinkers, „Mitklinger“. 😉 Heute stand Grammatik an, genauer: die Konjugation oder Beugung von Verben. Damit habe ich im Allgemeinen kein Problem, und auch hier funktionierte es – obwohl es im Niederländischen einige Besonderheiten in der Schreibweise zu beachten gilt. Aber einmal mehr stellte ich fest, dass man schon „unbewusst“ viel lernt, wenn man nur lange genug in einer Grenzregion lebt. 😉
Dann lernten wir das niederländische Alphabet, und da kamen Erinnerungen hoch …
Einst, in den Neunzigern, besuchte ich meinen besten Freund Fridolin in seiner neuen Wohnung. Als ich eintraf, lief der Fernseher und dort – eher ungewöhnlich für Fridolin – der „Juniorensender“. Soeben sangen etwa zwanzig Kinder das „Alphabetlied“, wie als Untertitel eingeblendet wurde. Und ich hörte: „Aah, bej, sssej, dej, ej, eff, chchee …“ Hätte es sich um „Die Sendung mit der Maus“ gehandelt, hätte ich sofort geschaltet, aber so sah ich Fridolin an und meinte: „Der ‚Juniorensender‘ ist aber wirklich sehr sozial – das finde ich gut!“ – „Wie meinst du das?“ – „Nun ja, hör doch hin! Sie lassen auch sprachbehinderte Kinder ein nettes Lied singen! Die gehören doch auch dazu – ich finde das klasse, dass man nicht-sprachbehinderten Kindern gleich klar macht, dass andere Kinder, die da ein leichtes Handicap haben, genauso schön singen können!“
Fridolin sah mich lange und ungläubig an. Dann fragte er: „Sag mal, Alilein – wie lange lebst du schon in Aachen?“ – „Wieso fragst du mich das? Vier Jahre!“ – „Welche Länder grenzen hier in der näheren Umgebung an Deutschland?“ – „Was soll das denn? Wir leben hier bekanntermaßen im Dreiländereck Belgien-Deutschland-Niederlande! Warum fragst du mich das? Hältst du mich für doof?“ – „Das nicht, aber für ein wenig geistesabwesend, wenn du meinst, diese Kinder hätten ein sprachliches Handicap. Wo leben wir hier?“ – „In Aachen. Im Drei…länder…eck…,“, sagte ich mit ersterbender Stimme. Und es fiel mir wie Schuppen aus den Haaren, als Fridolin auch schon meinte: „Das sind kleine Holländer! Das ist das Alphabet auf Niederländisch!“ – „Tu mir einen Gefallen – erzähl das niemandem! O Gott – wie konnte ich so begriffsstutzig sein! Natürlich sind das kleine Holländer! Und wie süß sie singen! Aah, bej, sssej, dej, ej, eff, chchee …“
In Erinnerung an diese Peinlichkeit fing ich gleich zu grinsen an. Dummerweise hielt Thijs das wohl für eine Wortmeldung, und so musste ich das gesamte Alphabet auf Niederländisch aufsagen … Beim G hätte mich fast ein Lachanfall ereilt, aber ich hielt tapfer durch. Bis zu dem, was Niederländer als het lange ij bezeichnen, das Ypsilon, das sich im Grunde genauso ausspricht wie het korte ei, das ei …
Glücklicherweise hatte keiner mehr zum Alphabet Fragen, nachdem wir dann noch unsere Namen und Mailadressen mit jedem punt, apenstaartje, streep und streepje hatten buchstabieren müssen.
Nachdem wir diese Hürde überwunden hatten, galt es, zusammenhängende niederländische Texte zu lesen, und da fiel mir auf, dass keiner so recht wollte und alle auf ihre Unterlagen auf dem jeweiligen Tisch vor sich starrten, mich eingeschlossen. Mir fiel jedoch aus dem Augenwinkel auch auf, dass Thijs‘ Blick stets auf mich gerichtet war, wenn es darum ging, dass eine(r) den Anfang machen sollte. Und so gab es mehrere Situationen, da ich anfing, denn ich kenne die Situation, wenn man als Dozent vorne sitzt oder steht und wünscht, dass jemand sich einfach traue. Und schon legte ich los.
Das werde ich künftig nicht mehr machen, egal, wie Thijs guckt! Denn mein Sitznachbar meinte: „Jetzt traue ich mich nicht mehr.“ – „Wieso?“ – „Du kannst das ja schon.“ – „Nee, nur die Aussprache – den Rest kann ich auch nicht.“ – „Ja, aber …“ – „Dann melde dich doch mal – ich will auch nicht dauernd!“ – „Ja, wahrscheinlich hast du Recht.“ – „Ja, dann hup-hup, Holland!“
So richtig wohl fühlte ich mich danach nicht mehr – bis wir dann jenen Satz lernten … Den Satz, der einfach nur klasse ist und zu jeder unliebsamen Situation passt, die es im Leben gibt.
Dat is niet mijn pakkie-an.
Diesen Satz merke ich mir, und wenn demnächst jemand eine Frage an mich hat, die mit meiner eigentlichen Aufgabe nichts zu tun hat, werde ich ihm lächelnd: „Dat is niet mijn pakkie-an!“ entgegenschleudern. „Das ist nicht meine Aufgabe!“ bzw. „Das ist nicht mein Sachgebiet!“
Umso schöner, als ich heute den letzten Einschreibwilligen eingeschrieben habe. Wer nun noch kommt, hört von mir nur noch diesen magischen Satz. Nicht auf Deutsch. Auf Niederländisch, denn da klingt er so niedlich, dass kaum jemand böse sein kann. 😉
Und eines meiner Lieblingsverben habe ich im Niederländischen auch schon gefunden: aaien. Seit ich weiß, was das heißt, frage ich nicht mehr nach, was an: Schacklin, mach dat Mäh mal ei so witzig sein soll. 😉 Denn aaien heißt streicheln. Das ist doch wirklich süß. 😊
Und so lerne ich im Niederländisch-Kurs auch noch ganz eigene Eigenheiten meiner Muttersprache. 😉 Wie ich auch schon vor geraumer Zeit lernen musste, dass einer der Lieblings-Brotbeläge meiner Kindheit auch aus den Niederlanden stamme, wo er als hagelslag bekannt ist: Kenne ich von klein auf, wusste aber bis vor ein paar Jahren nicht, dass diese Angewohnheit aus Holland kommt. Man nehme eine Scheibe Graubrot, bestreiche sie mit Butter und streue danach Schokostreusel darüber. Aber ganz besondere Schokostreusel, die wie winzige Würmer aussehen: hagelslag eben. 😉
Ich bin gespannt, was ich in dem Kurs noch so alles kennenlerne, was ich für deutsch hielt … 😉
Du kannst Verben beugen? ich habe schon Schwierigkeiten, mein Feuerzeug aufzuheben (und mich zu beugen), wenn es einmal versehentlich runtergefallen ist …. aber ich mache ja auch keinen Niederländischkurs … 😉
Selbstverständlich. Jeder, der spricht bzw. Sprache nutzt, tut dies. 😉 Du hier auch! 😉
ach ja, liebe Ali, jetzt – da Du es sagst, merke ich es auch!!!! 😉
Ja, beruht auf intensiver Kenntnis der Grammatik der deutschen Sprache … 😉
aber wenn ich auch hin und wieder mal was vergniesgnaddel, unter’m Strich zählt doch, ob der Lesende (wird, glaube ich, klein geschrieben, als Attribut des Substantives) 🙂 es versteht!
Wenn es um die reine Verständigung geht: klar. Wie Du weißt, habe ich jedoch auch beruflich mit Sprache zu tun. 🙂
und das ist das zweite paar Schuhe (OMG, das wird jetzt aber wieder gross geschrieben, nä?) ich erlaube mir halt, hier mal den einen oder anderen Lapsus mit einzuwuddeln; beruflich würde ich es mir auch 2 x überlegen (auch u.a. bei der Steuererklärung pp.) so zu schreiben, wie ich denke. Es ist halt mein Blog und, wer einen Schreibfehler findet, möge ihn bitte behalten; ich habe genügend davon noch in Petto 🙂
Ja, so soll es ja auch sein. Nur: Dies ist mein Blog … 😉
ach wie doof, ich war im falschen Film.
Ich entschuldige mich untertänigst Frau Ali!
Untertänigkeit ist nicht vonnöten. 🙂
alles gut, Frau Ali