Auf meiner Fensterbank brennt eine Kerze. Ich habe sie vorhin angezündet, in hilflosem Zorn über das, was in Berlin geschehen ist. In erster Linie aber aus Kummer. Und Trauer über die Opfer.
Hilflos auch mein Zorn über allzu früh Urteilende, aber auch über diejenigen, die reflexartig sofort eine Gruppe ausschließen möchten, dafür aber andere hineinreißen – und natürlich ganz gegen Rassismus eingestellt sind. Das ist löblich – das sollte so sein. Keine Vorurteile, bitte.
Es erschließt sich mir aber nie so recht dieser blindwütige Eifer, mit dem manch Mitmensch hingeht und im Kommentarbereich einer Zeitung dann Kommentare ablässt, dass es ja billig und primitiv sei, gleich wieder auf bestimmte Menschen zu verweisen, um im selben Atemzug darauf hinzuweisen, dass ein polnischer LKW ja involviert sei, und es sei ja hinlänglich bekannt, dass gerade Polen oft mit defekten Bremsen unterwegs seien … Hallo? Im Oberstübchen jemand zu Hause? Ich kann doch nicht anderen Menschen vermeintlichen Rassismus unterjubeln und meine eigene Verteidigungshaltung mit einem anderen Rassismus begründen! Aber – ach! Das ist ja Alltagsrassismus – der scheint okay zu sein. Polen kriegen nix auf die Reihe, denen ist alles egal, und natürlich fahren Polen durch die Bank mit defekten Bremsen an ihren Fahrzeugen durch die Gegend … Alle! Ohne Unterschied! Ganz gewiss – echte Experten sind am Werk, etwas zu erklären, was noch in Aufklärung begriffen ist …
Da geht mir – ehrlich gestanden, aber im übertragenen Sinne– das Messer in der Tasche auf, und ich frage mich, was im Kopp solcher Ich-verteidige-blindwütig-alle-die-mir-besonders-am-Herzen-liegen-weil-ich-überall-Verrat-wittere-gegen-das-was-mir-rassistisch-erscheint-Menschen vor sich gehe, die dann nicht einmal merken, dass sie das, was sie anderen vorwerfen, selber in peinlichster Weise tun. Ja – sie scheinen es wirklich nicht einmal zu merken. Eifer des Gefechts – keine Frage, kann jedem passieren. Aber wenn jemand doch so korrekt, mitfühlend und mit dem Überblick gesegnet sei, frage ich mich doch, wie so jemandem etwas Derartiges wie eine derart peinliche Pauschalverurteilung passieren könne.
Einer in dem Kommentarbereich schrieb sogar, möglicherweise habe der polnische Fahrer des LKW sich bestechen lassen – man wisse ja, wie Polen seien … Das sind die Momente, da ich mich frage, ob ich vielleicht in einem Paralleluniversum lebe. In einem Universum, da Dummheit und Mangel an Anstand und Logik en vogue seien. In einem Schwarzweiß-Universum, in dem es tatsächlich nur die „Guten“ und die „Bösen“ gebe, wobei sich Gut und Böse aus einer gewissen politischen Korrektheit ergibt und nicht aus dem, was man „gesunder Menschenverstand“ nennt – und natürlich ist Polen nie zu trauen, denn die fahren ja unentwegt mit defekten Bremsen durch die Gegend … Außerdem klauen sie pausenlos und fressen kleine Kinder.
Ich bin entsetzt über das, was auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin passiert ist, einer Stadt, die ich sehr liebe. Es tut mir weh, zu wissen, dass so viele Menschen, die einfach nur nett einen Glühwein trinken und etwas bummeln wollten, nun entweder tot oder schwerverletzt sind. Es tut mir weh, dass nun Angehörige nicht wissen, was aus ihren noch vermissten Verwandten oder Freunden geworden ist, weh, dass viele Leute Tote zu betrauern haben.
Und es tut mir weh, dass nun einige Menschen hingehen und das Andenken mancher Opfer noch mit Füßen treten, und das in ihrem Eifer, das Richtige zu tun, ohne zu bedenken, dass sie damit möglicherweise ganz ungerechtfertigt zusätzlichen Schmerz erzeugen. Aufgrund ihrer eigenen Vorurteile, die sie bei anderen aufs Schärfste verurteilen würden.
Ganz besonders weh tut es mir, dass die Logik immer mehr hintanstehen muss – zumindest scheint es so. Im blinden Bedürfnis der Verteidigung werden einfach logische Gedankengänge ausgeschaltet.
Ganz ehrlich – das macht mir manchmal Angst.
Ich hoffe, dass alles aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden mögen, auch wenn das all die erlittenen Verluste nicht aufwiegen kann.
Für mich bedeutet dieses furchtbare Ereignis einmal mehr, mich um Sachlichkeit zu bemühen – nicht alle aus der Gruppe A sind schlecht, nur weil einige furchtbare Dinge anstellen. Für Gruppe B gilt aber das Gleiche, auch wenn schon mal welche mit defekten Bremsen herumgefahren sind. Und das Gleiche gilt für alle anderen Gruppen aus der Gruppe Mensch.
Ich klinge wie „Das Wort zum Sonntag“, ich weiß – aber das Ganze hat mich heute wirklich richtig aufgebracht. Sorry.