Wie wusste schon Sokrates? „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ So sagte er zumindest. Er sagte es auf Altgriechisch, ich muss die Übersetzung bemühen, da ich des Altgriechischen nicht mächtig bin. Das gilt übrigens auch für das Neugriechische. 😉
Und so wie der weise Sokrates lamentieren seit Jahrhunderten viele ältere Menschen über „die Jugend von heute“. Das war daher auch in meiner Jugend gang und gäbe.
Ich bin derzeit eher geneigt, mich über Rentner aufzuregen. Nicht über alle, natürlich, aber über eine bestimmte Rentnerin, die mich heute echt auf die Palme gebracht hat. Doch dazu später.
Ich gebe zu, Teile der Jugend sind geeignet, auch mir derartige Aussagen zu entlocken, speziell seit meiner Zeit als Dozentin an einer noch recht jungen Fachhochschule einer Nachbarstadt, an der ich mich zwei Jahre lang als Lehrbeauftragte mit Studenten herumschlug, deren Gros dem entsprach, was man als „Geistesgrößen“ bezeichnet. Und zwar tatsächlich in Anführungszeichen, wohlgemerkt. Ich hatte immer Mitgefühl mit den Studis, die wirklich studieren wollten und den Hochschulbetrieb nicht als einzige Party oder rein spaßiges Event betrachteten. 2010 habe ich dort angefangen, 2012 wieder aufgehört. Denn die „Geistesgrößen“ unter den Studis stellten die höchsten Ansprüche, drohten bei schlechten Noten schon mal mit Brüdern oder Anwälten, obwohl die schlechte Note völlig zu Recht erfolgt war.
Am besten waren die Evaluationen, die die Damen und Herren „Studierenden“ am Ende jedes Semesters über Dozenten und Veranstaltungen abgeben durften. Die waren zwar nie schlecht, wenn denn evaluiert wurde, aber einmal wusste ich nicht, ob ich lachen oder mir mit der flachen Hand gegen die Stirn schlagen sollte, denn da stand: „Nisch auf Englisch anreden!!!!!!!!!! Isch kann kein Englisch, und das habe isch der Frau auch gesagt!!!!!!!!“ Mit der „Frau“ war wohl ich gemeint … Man muss dazusagen, dass ich dort fachsprachliche Englischseminare im Fachbereich BWL leitete. Ergo Seminare, die die Beherrschung allgemeinsprachlichen Englischs in gewissem Rahmen voraussetzten. Übrigens übertreibe ich mit den Ausrufezeichen in dem klassischen Zitat keineswegs, das ich damals abgespeichert habe, weil es einfach so denkwürdig war. 😉 Der junge Mann hat wirklich so viele verwendet, wohl, um seiner Empörung Ausdruck zu verleihen, dass ich mich in einem Englischseminar erdreistet hatte, ihn nicht auf Deutsch, Mandarin oder Französisch anzureden, denn heutzutage weiß doch jedes Kind, dass der inflationäre Gebrauch von Satzzeichen, speziell des Ausrufezeichens, ein probates (Stil-)Mittel ist, die Richtigkeit der getätigten Aussage zu unterstreichen. 😉
An dieser Hochschule habe ich auch mit meinem ehernen Vorsatz brechen müssen, nie, niemals Studis anzuschreien. Doch einmal, als mal wieder ein Drittel mit Smartphones beschäftigt war, ein weiteres Drittel lieber miteinander über alles Mögliche redete, und das letzte Drittel, das offenbar gewillt war, am Seminar aktiv teilzunehmen, sich nicht konzentrieren konnte und darob herumnölte, platzte mir der Kragen. Ich holte tief Luft, und dann habe ich die Studis angebrüllt und derart zusammengeschissen, dass auch der Hinterletzte stumm und mit aufgerissenen Augen dasaß und staunte. Das hatten sie nicht von mir erwartet. Ich – ehrlich gestanden – auch nicht. Aber das Ganze war mir schon länger auf die Nerven gefallen, freundliche Ansprachen hatten nicht gefruchtet, und so brach es dann eben aus mir heraus. Ich schnauzte: „Ich frage mich ernsthaft, was die Scheiße hier soll! Diejenigen von Ihnen, die nicht mitmachen wollen, können gerne draußen weiterreden oder ihr Smartphone malträtieren! Oder wir richten dort hinten eine Art Spielecke ein, denn ein Teil von Ihnen scheint noch nicht erwachsen genug zum Studieren! Wie stellen Sie sich das eigentlich vor?“ Und ich brüllte noch ein paar Wahrheiten.
Seitdem klappte es mit dem Kurs erstaunlicherweise prima. Offenbar brauchten die mal solch einen Anschiss, und ich sagte ihnen, das könne ich gerne jederzeit wiederholen. Einige meinten zu mir: „Sie haben uns echt einen Schrecken eingejagt, Frau B.! Wir hatten nicht damit gerechnet, dass Sie so laut brüllen können.“ – „Da haben Sie mich eindeutig unterschätzt. Ich brülle nicht gern, und ich musste auch noch nie Studis anbrüllen. Sie sind die ersten – aber darauf brauchen Sie sich nichts einzubilden, denn ich brülle nur dann, wenn eine Sache wirklich nicht auszuhalten ist.“
Dabei war dieser erste Kurs noch der netteste … 😉 So etwas war ich von der Uni, an der ich ebenfalls Dozentin war und wieder bin, nicht gewohnt, und zu jener Zeit entfleuchte mir auch manch unfreundlicher Satz über gewisse Teile der Jugend. Nicht über „die Jugend“ generell.
In meiner Jugend war ich auch mit dem Lamento über „die Jugend von heute“ vertraut. Mich hat mal eine Rentnerin dergestalt angepöbelt, als ich am Kölner Hauptbahnhof zwei kleinen Kindern half, zu ihrem Vater zu gelangen, der bereits im Zug stand, in der Tür, und die beiden Kinder anfeuerte, zu ihm zu kommen, während die beiden kleinen Kerlchen, das Mädchen etwa fünf, der Junge etwa drei Jahre alt, in einer langen Schlange von Menschen standen, die alle in den Zug wollten. An jeder Zugtür solch eine Schlange, und in dieser hier, in der auch meine damals beste Freundin Sonja und ich standen, eben auch die beiden Kleinen, die ich sehr süß fand. Jedes von ihnen hatte eine Bratwurst in der Hand, und sie hielten sich an den Händen. Ich fragte mich, warum der Vater schon weit vorne in der Zugtür stand, aber dann wurde mir klar, dass er die beiden Kinder wohl zur Eigenständigkeit erziehen wollte. Im Grunde eine gute Idee, aber doch nicht bei solch einem Andrang, in dem von allen Seiten geschubst und gedrängelt wurde! Auch Sonja und ich wurden in der Menge der Drängelnden geschoben oder beiseite gedrängt, und ich sah plötzlich die kleinen Kinder nicht mehr, die schräg vor uns gewesen waren. Ich drehte mich um und sah sie ziemlich weit entfernt schräg hinter uns, soeben von drei wackeren Rentnerinnen noch weiter nach hinten gedrängt, denn es war eminent wichtig, dass die wackeren Rentnerinnen, die augenscheinlich gut zu Fuß waren, einen Sitzplatz im Zug bekamen …
Als ich das sah, platzte mir der Kragen. Auch ich war als Kind oft von Erwachsenen einfach weggedrängt worden, meist von Frauen, die im Geschäft meinten: „Kinder können warten.“ Und ich weiß noch, wie dankbar ich immer war, wenn dann ein anderer Erwachsener für mich Partei ergriff und half. Und so sagte ich zu Sonja: „Sieh dir das an! Diese älteren Frauen drängen die beiden Kleinen einfach ab! Nee, so nicht!“ Und ich löste mich aus der Schlange und drängte mich nach hinten zu den beiden Kindern durch. „Na, ihr zwei,“, sagte ich zu ihnen, „ihr braucht keine Angst vor mir zu haben. Ist das da vorne im Zug euer Papa?“ – „Ja,“, sagte das kleine Mädchen, das völlig aufgelöst war, weinte und offenbar Angst hatte, von seinem Vater getrennt zu werden. „Passt auf, ich bringe euch beide zu ihm. Es geht ja nicht, dass die Leute sich einfach vordrängeln.“ Und ich schob das kleine Mädchen vor mir her, dessen Bruder ich mir kurzerhand unter den Arm geklemmt hatte, mitsamt der Bratwurst. „Das wollen wir doch mal sehen!“
Und schon drängten wir von hinten vor, ich sagte zu den Damen, die die Kinder einfach abgedrängt hatten: „Entschuldigen Sie, bitte, lassen Sie mich durch. Ich muss diese Kinder zu ihrem Vater dort vorn bringen!“ – „Unverschämtheit – da kann ja jeder kommen! Was wollen die Kinder hier überhaupt?“ – „Zu ihrem Vater und mit dem Zug fahren, mit dem auch Sie fahren wollen! Das ist ihr gutes Recht!“ – „Frechheit! Die sollen gefälligst warten, bis sie dran sind! Kinder können warten!“ Da war er wieder, dieser Scheißsatz … Und so schnaubte ich: „Sie wären längst dran, wenn Sie und einige andere sich nicht vorgedrängelt hätten!“ – „Frechheit!“ – „Nein, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, Sie brauchen gar nicht zu leugnen! Die Kinder waren ursprünglich vor Ihnen, und ich finde es ätzend, wenn Erwachsene Schwächere einfach wegdrängen.“ – „Unverschämtheit! Die Jugend von heute – unmöglich!“ – „Manche Rentner von heute sind offenbar viel schlimmer!“ Und ich schaffte die beiden Kinder zu ihrem Vater, der mir erklärte, es sei ein Kreuz, mit Kindern mit der Bahn unterwegs zu sein. „Ja, das glaube ich, wenn man sie im Stich lässt und nicht eingreift, wenn sie Hilfe brauchen!“ fauchte ich und stieg wieder aus, um den zürnenden Omas zu zeigen, dass ich keineswegs die Kinder als Vorwand benutzt hatte, vor ihnen in den Zug zu kommen. Einer der reizenden Damen habe ich sogar noch gesagt: „Bitte schön, extra für Sie nun der Vortritt, obwohl Sie vorhin ja auch noch hinter mir waren.“ Sie sah mich gar nicht mehr an, aber sie war nicht allzu erfreut. Sonja meinte zu mir: „Boah, Ali! Was war das denn? Das hätte ich mich nie getraut!“ – „Ich mich auch nicht,“, sagte ich, „aber mich hat der Zorn gepackt.“ Offenbar ist Zorn ein guter Motivationsspender, doch ich war hinterher selber total überwältigt. 😉
Ja, es wird viel geschimpft über die Jugend. Leider gar nicht einmal selten von denen, die ihrerseits gern den eigenen Vorteil suchen und sich gar nicht vorstellen können, dass man vielleicht – und das nicht selten zu Recht – auch über sie lamentieren könnte.
So wie ich heute, als ich zu einem Discounter in der Stadt fuhr. Eine selten blöde Idee, wie sich herausstellte, denn die Filiale an der Horster Straße verfügt über einen ziemlich ätzenden Parkplatz, sehr klein, sehr eng – und heute sehr bevölkert. 😉 Mit Mühe und Not fand ich eine Parklücke, kaufte mit gefühlt Hunderten von Leuten gemeinsam im Discounter ein und ging dann wieder zum Auto. Ausparken war gar nicht so einfach, denn hinter mir hatte sich eine Schlange gebildet, da der Parkplatz eine Ampel hat, denn auf der Hauptstraße fährt die Straßenbahn, und es wäre zu gefährlich, einfach vom Parkplatz auf die Straße zu fahren. Es gibt auch eine Fußgängerampel …
Endlich konnte ich aus der Parklücke herausfahren und stand dann hinter einem Honda und einem Opel Corsa an der Ampel, die eine sehr, sehr lange Rotphase hat. Endlich schaltete sie um, und Hondafahrer und Corsafahrerin fuhren los. Ich gab ebenfalls Gas, musste dann aber heftig bremsen, da eine ältere Frau, offenkundig Rentnerin, einfach bei roter Fußgängerampel weiterging. War ihr doch egal, ob sie Rot hatte und den Verkehr aufhielt … Ich hupte, sie blickte herüber, und ich zeigte auf die rote Fußgängerampel. Da lachte sie nur und zeigte mir einen Vogel. Ich ließ das Fenster herunter und fragte, was das denn, bitte, solle – sie sei im Unrecht und zeige mir noch einen Vogel? Ich konnte eh nicht weiterfahren, denn die Grünphase meiner Ampel war nur sehr, sehr kurz … 😉 Die alte Frau rief herüber: „Is mir doch egal, müssense ebend warten. Sind ja noch jung! Junge Leute können auch mal warten – ein bisschen mehr Rücksicht auf alte Leute, junge Frau!“ Na, wunderbar – verkehrte Welt …
Ich gestehe, ich war kurz davor, auszusteigen und mal so richtig Tacheles mit der Dame zu reden. Andererseits: Mit der Sorte Tacheles zu reden, hat meist eh keinen Nährwert. 😉 Kenne ich schon. Rief mir auch die Frau im Opel hinter mir zu, die ebenfalls das Fenster heruntergelassen hatte: „Lassense ma – dat hat keinen Sinn, Frollein! Auch wennse im Recht sind!“ Und so biss ich vor Wut ins Lenkrad, zumindest fast. Mir war jedenfalls sehr danach. Und als die Ampel nach gefühlten drei Stunden wieder auf Grün schaltete, gab ich so viel Gas, dass ich mit gefährlich quietschenden Reifen anfuhr. Und ich fuhr dann auch ziemlich dynamisch. Hoffentlich war da nirgendwo ein Blitzer … 😉
Es gibt in jeder Bevölkerungsgruppe nette Menschen – und andere. 😉