Vor Jahren sah ich mal eine Doku, in der es um die Technisierung im ausgehenden 19. und einsetzenden 20. Jahrhundert ging. Ich sehe gerne Dokus, und diese interessierte mich. Man sah alte Bilder und Filmaufnahmen, unter anderem aus Berlin. Die Straßen waren zwar nicht leer, aber man hätte dort Rad schlagen und Flickflacks machen können, ohne jemandem im Weg zu sein. Vereinzelt sah man Automobile, aber auch noch Pferde-Omnibusse, jedoch auch einige erste „Elektrische“.
Fasziniert starrte ich auf den Bildschirm: Wie ruhig und gelassen doch alles aussah! Ein wundervolles Idyll! Am liebsten hätte ich mich hinbeamen lassen, als der Sprecher aus dem Off zu einer Erklärung anhob. Vielen Menschen damals sei die Hektik auf den Straßen nicht bekommen. (Welche verdammte Hektik? Im Vergleich zu heute sah alles wunderbar ruhig aus, so ruhig, dass ich von Neid angefallen wurde!) Und viele Leute hätte die fortschreitende Technisierung, mit der wachsender Stress einhergegangen sei, krankgemacht – sie litten an Neurasthenie! Der Begriff wird heute kaum noch verwendet, aber es handelt sich um ein Nervenleiden, das auch mit „reizbarer Schwäche“ umschrieben wird. Alles aufgrund des übergroßen Stresses durch die viele Technik und die vielen, vielen Menschen und klingelnden Straßenbahnen, wiehernden Pferde, kurz: durch die fortschreitende Industrialisierung.
Zwar war mir klar, dass man alles in Relation sehen muss, aber ich lachte heftig. Die armen Menschen! Wenn das damals mit erheblich mehr Raum aufgrund geringerer Bevölkerung schon so stressig war: Was nur würden sie sagen, würde man sie in die heutige Zeit beamen? Wenn das ginge, versteht sich …
Ich hatte heute einen etwas hektischen Tag: Kaum geschlafen, bin ich schon recht früh zur Arbeit gefahren, und das nicht mit dem Auto, sondern mit dem ÖPNV. Warum? Nun, heute war mein Wiedereinstieg an der Uni einer der Nachbarstädte, wo ich nach einem Jahr Pause wieder ein Seminar leite. Der Unterschied zu vorher besteht darin, dass ich meine Haupttätigkeit nicht wieder zur Teilzeittätigkeit reduziert habe, sondern das Seminar nun zusätzlich zur Vollzeittätigkeit mache. Ich muss verrückt sein, denn auch wenn es nur ein Seminar ist, bedeutet es doch sehr viel Arbeit, da ich das Material selber recherchieren und zusammenstellen, vor- und nacharbeiten, eine Klausur vorbereiten und nachher korrigieren muss. Klingt harmlos, wenn auch Lehrer an Regelschulen immer gewaltig krakeelen – speziell die mit den sogenannten „Korrekturfächern“. Ich bin keine Lehrerin, ich mache das nebenberuflich und zusätzlich zu meinem „Hauptamt“. Da sitzt man dann abends nach Feierabend noch sehr lange am PC, entwirft und erstellt neue Aufgaben. Ich zumindest, weil ich den Studis nicht immer dasselbe Zeug vorsetzen will. Ich verwende nur selten alte, abgenudelte Aufgabenstellungen und bin also selber schuld. 😉 Aber es macht Spaß, und man muss auch immer aktuell sein, wenn ich auch manchmal wegen der Zusatzarbeit fluche, die ich mir selber ausgesucht habe und die man hinterher gar nicht mehr so sieht, wenn die Aufgaben dann erheblich schneller, als sie erstellt wurden, von den Studis gelöst werden.
Ich fuhr mit dem ÖPNV, da ich ungern Autobahn fahre. Nein, eigentlich verhält es sich bis dato so, dass ich mich mit Händen und Füßen dagegen wehre. 😉 Dabei bin ich früher – vor meiner elfjährigen freiwilligen Fahrpause – durchaus Autobahn gefahren. Zugegeben, auch da schon nicht gern. Aber es wäre auch keine Zeitersparnis, denn die Autobahnen hier im Pott sind, für meine Begriffe, nicht sonderlich angenehm und obendrein derzeit mit besonders vielen Baustellen bewehrt. Mit dem ÖPNV würde ich – und das ist der Hohn bei all den Verspätungen – schneller vor Ort sein.
Gegen 14:15 h „raste“ ich los, bekam alle Anschlüsse und stand gegen 16:15 h vor „Pavillon 08/15“, einem Seminarraumgebäude. Man hatte mir dort Seminarraum 16 zugewiesen, den ich besonders mag, da er zwei Fensterfronten hat. Ein Eckraum.
Ich war vorgewarnt, denn nachdem ich letzten Sommer meine Dozententätigkeit an den Nagel gehängt habe, weil mir ein Mensch vom Fach erklärt hatte, ich müsse rententechnisch Vollzeit arbeiten, da ich mit Teilzeit sicherlich irgendwann ganz gewiss an der Armutsgrenze vegetieren würde, war mein fachsprachliches Seminar, das ich von der Pike an aufgebaut hatte, verwaist. Ein Kollege hatte es übernommen, und seitdem waren die Teilnehmerzahlen eingebrochen. Ich bilde mir nicht ein, dass es an mir liegen könnte, aber meine beiden Seminare in diesem Fach waren immer überbelegt, und ich hatte oft über 30 Leute in einem Kurs. Bei meinem Kollegen saßen acht Leute … Ich glaube nicht, dass es an ihm lag – möglich, dass es bei den Studis einen Paradigmenwechsel gegeben hat. 😉 Und so rechnete ich eigentlich nur mit sieben Leuten, denn so viele hatten auf der Anmeldeliste gestanden.
Es kamen zehn. Cool! Und wir verstanden einander auf Anhieb, obwohl ich – ich gebe es ungern zu – jedes Mal von neuem total nervös bin und ein bisschen Lampenfieber habe, wenn ich ein neues Seminar mache, mit ganz neuen Leuten. Man darf es sich nur nicht anmerken lassen, und so lief es prima, und die Jungs und das eine Mädel – völlig ungewöhnlich, nur ein Mädel in diesem Fach! – tauten schnell auf und lachten. Bei mir wird immer viel gelacht, und als ich es einmal tat, rief ein Studi: „Wow, Frau B.! Sie haben ja ’ne geile Lache! Total dreckig! So habe ich noch nie eine Frau lachen hören! Cool!“ Ich nahm es als Kompliment. 😉
Ratz-fatz waren die neunzig Minuten vorbei, und ich machte mich auf den Heimweg. Aber ach! Natürlich hatte mal wieder die S-Bahn in meine Richtung Verspätung, die auf der anderen Seite des Uni-S-Bahnhofs war pünktlich. (Hätte ich dort gestanden, wäre es garantiert umgekehrt gewesen …)
Am Hauptbahnhof, an dem ich ganz unvoreingenommen sein wollte, obwohl wieder und wieder ganz miese Dinge über ihn in der Zeitung stehen, wurde ich eines Besseren belehrt: Dort liefen in der Tat sehr viele sinistre Gestalten herum, und ich versuche immer, die Dinge positiv zu sehen. Oft bleibt es beim Versuch. Es war nicht einmal 19 Uhr, und schon liefen Menschen herum, denen ich nicht einmal im Hellen begegnen wollte! Sorry, falls das böse klingt, aber es war leider wirklich so. Ich begab mich an mein Gleis, aber wesentlich besser war es dort auch nicht. Im Raucherbereich sprach mich eine Hochschwangere an und bat um Feuer. Die Zigarette hatte sie bereits im Mundwinkel. Ich sagte: „Nö.“ – „Ey, wieso nich?“ – „Weil Sie schwanger sind. Von mir bekommen Sie kein Feuer.“ – „Ey, du rauchs‘ doch selbst!“ – „Ich bin auch nicht schwanger!“ Und schon wurde ich mit wüsten Verwünschungen bedacht, aber sie ging dann und bekam von jemand anderem Feuer, nachdem zwei weitere Leute sie ebenfalls abgewiesen hatten, weil sie das nicht unterstützen wollten. Ich bin normalerweise nicht wirklich kleinlich, aber da streike ich.
Im Zug in meine Heimatstadt war es auch ganz kuschelig. Mehrere Sturztrunkene nervten herum, und der Höhepunkt war, als einer mitten in den Gang kotzte. Super! Die Krönung des Tages! Dazu noch einige schreiende Kinder, und ich war froh, als der Zug in meinen Heimatbahnhof einfuhr.
Die nächste Straßenbahn fuhr erst etwas später, aber ich musste ohnehin noch einkaufen. Auch im Supermarkt herrschte eine latent aggressive Stimmung, und ich sah zu, dass ich Land gewann. Noch immer viel Zeit bis zur nächsten Straßenbahn, die dort unterirdisch abfährt, und ich blieb erst einmal oben und rauchte eine Zigarette. Gleich wurde ich angeschnorrt: „Ey, hasse ma ’ne Kippe?“ – „Nein.“ – „Wieso nich?“ – „Weil ich mein Geld auch nicht vom Baum pflücke.“ – „Ey, blöde […]! Ey, pass auf, sonst mach ich …“ Er bekam gleich zwei Zigaretten, und ich hasste mich dafür. Aber die Gegend am Hauptbahnhof hier ist auch nicht gerade vertrauenerweckend, und ehe ich wegen einer blöden Zigarette die Fresse poliert oder Schlimmeres kriege, gebe ich doch lieber meine vermeintlich zwei letzten Zigaretten mitsamt Schachtel ab. Meine Hoffnung war groß, dass der junge Mann nicht die zwei flammneuen und unangebrochenen Schachteln in meiner Einkaufstüte sähe … Er sah sie nicht. Er meinte nur: „Na, siehße – geht doch!“ Ich sagte nichts und dachte mir meinen Teil: „Es wird immer besser hier …“
Endlich kam die Straßenbahn, und es stiegen erfreulich wenig Leute ein. Leider darunter ein stark alkoholisiertes Pärchen, das sich lautstark in der Bahn anschrie. Die Frau – möge wer auch immer geben, dass ich nie so aussehen werde! – drohte „Männe“ sogar Prügel an, woraufhin der wütend ausstieg und meinte: „Nee, d-d-daa g-g-geh ich doch lieber na Hause!“
Endlich Ruhe, mal abgesehen von einem Handysignal, das mir schon immer auf die Nerven gefallen ist – es klingt, als pfiffe ein Papagei eine Abfolge von fünf scheußlichen Tönen. Aber was sollte es …
Bis dann das Handy der drastischen Dame zu klingeln begann. Immer wieder. Sie ging nicht dran. Erst vier Haltestellen vor meiner Heimathaltestelle. Und wie ich es erwartet hatte: große Versöhnung am Telefon. „Näää, Franz-Jupp, dat tut miiaa leid! Abba du hättes nich sagen düüaafen, dattich ’ne abgetakelte Fregatte bin! Ey, klaa binnich gleich zu Hause! Kommße vooaabei? Ja, aber zieh gleich ma deine Jacke aus und kuck, ob de nich wat drunter hass! Ich glaub, ich happ dich vooaahiiin voll vääaaletz, als ich dich eine reingehauen happ!“
Halleluja! Ich musste grinsen. Wie absurd war das denn, bitte? Absurdes Theater mitten in der Straßenbahn! Mein Grinsen verschwand jedoch, als die Dame noch sechsmal wiederholte, Franz-Jupp möge doch die Jacke ausziehen! „Ey, zieh abba die Jacke aus, hörße?“ Immer wieder in derselben Intonation, denselben Worten – es klang wie ein Mantra. Wie ein fieses, Wahnsinn erzeugendes Mantra! 😉
Zum Glück stieg sie vor mir aus. Eine Haltestelle. Ich schleppte mich an der Post dann völlig erledigt ebenfalls heim. Und musste an die Doku von damals denken. Neurasthenie! Ha! Würde man diese Leute in die heutige Zeit versetzen, würden sie wahrscheinlich erst einmal ungläubig schweigen. Dann unartikuliert schreien. Und dann tot umfallen. Ganz sicher.
Das ist meine Erstheimat. Im 21. Jahrhundert. 😉
Ich wünsche euch einen schönen, entspannten Abend. 😉