Nicht der Berg, an den ihr jetzt vielleicht denkt. Der „Berg“ oder „Bääaach“, der das, wo ich so vor mich hinlebe, einst großgemacht hat. Eher der Berg unter als über Tage. Wird hier halt „Berg“ genannt, obwohl wir in den südlichen Ausläufern der Norddeutschen Tiefebene leben, wo alles recht flach ist. 😉
Ich bekam gestern, als ich den letzten Beitrag schrieb, so etwas wie Heimweh. Wie das, werdet ihr denken, denn ich sitze ja mittendrin im Pott! Aber der ist nicht mehr das, was er mal war – in ganz verschiedener Hinsicht. 😉 Jedenfalls ist er nicht so, wie ich ihn kennenlernte. Obwohl: Kann man etwas erst kennenlernen, in das man hineingeboren wird? Man wird eher hineingeworfen, und man nimmt dann das, was da geboten wird, als ganz normal an und wächst hinein. 😉
So erging es mir auch, und als Kleinkind wollte mir partout nicht in den Kopf, warum meine Mutter, aus einer Mittelgebirgsregion stammend und stets unter Heimweh leidend, immer nur die Nase rümpfte, fuhren wir an ganz tollen Bergen mitten im Pott vorbei. Ich machte sie stets darauf aufmerksam, dass es hier auch Berge gebe, aber sie schnaubte nur und meinte: „Das sind keine Berge, Ali, das sind Bergehalden! Das sind keine echten Berge. Möge wer auch immer geben, dass du den Unterschied erkennst! Aber ich sehe schwarz: Du bist ein Pottkind!“
Ich fand es damals nicht schlimm, dass sie schwarz sah – wir alle taten das, blickten wir auf solch eine Bergehalde. Die war schwarz oder wenigstens ziemlich dunkel, zumindest zunächst.
Sternenhimmel bei Nacht? Sehr schön, zugegeben. Als Kleinkind war es für mich wunderschön, fuhren wir an Scholven und der Raffinerie vorbei. Mich faszinierte es, wenn abgefackelt wurde – Flammen schlugen aus kaminartigen Rohren in den Himmel, und am schönsten war es, wenn es draußen dunkel war. Weniger schön natürlich, dass es bisweilen ziemlich unangenehm roch. „Wer war das?“ pflegte ich zunächst bei derartigen Gegebenheiten speziell meinem Vater, hinter dem ich im Auto fast immer saß, in die Ohren zu plärren, aber er meinte geduldig: „Niemand hier war das – das kommt von draußen. Manchmal riecht es halt beim Abfackeln etwas streng.“ Nun, ich gewöhnte mich daran. Meine Mutter rümpfte weiterhin die Nase, und es war ihr deutlich anzusehen, dass sie dachte: „Ich bin im falschen Film. Ich bin im völlig falschen Film!“
Mein Vater, ein eingeborener „Ruhri“, der sein Studium damit finanziert hatte, dass er unter anderem im Bergbau tätig gewesen war und dies – zum Kummer meiner Mutter – auch nach dem Studium in anderer Position fortführte, schleppte meine Schwester und mich, kaum, dass wir laufen konnten, ins Bergbaumuseum in Bochum. Wir waren „unter Tage“, wo mein Vater uns erklärte, das sei alles nur für Besucher, und auf einem echten „Pütt“ sei alles noch ganz anders, vor allem viel tiefer, und man führe auch nicht mit einem Aufzug, sondern in einem Förderkorb, und das sei erheblich unbequemer. Noch tiefer? Ich fand es da, wo wir waren, schon ziemlich warm, und mein Vater meinte, so richtig „unter Tage“ sei es noch viel wärmer, stickiger und gar nicht mit den uns gegebenen Verhältnissen zu vergleichen! Und mit Verve beschrieb er uns, wie er durch total enge Strebe hätte kriechen müssen. (Was ein „Streb“ war, hatte er uns bereits zuvor wiederholt erklärt, ob wir wollten oder nicht … 😉 Er war der Ansicht, ein echtes „Pottkind“ müsse so etwas wissen. ;-))
Wir bekamen viel erklärt, was Bergbau oder Montanindustrie anbelangte, und nicht immer waren wir besonders lernwillig, Stephanie und ich. Aber ich bin mir ganz sicher, dass mein Vater heftig bereut hat, in meiner Gegenwart je über Tiere im Bergbau erzählt zu haben! Denn ich monierte heftig, dass Pferde dort anno dazumal hätten tätig werden müssen. Die armen Tiere! Wie konnte man nur! Mein Vater erklärte mir daraufhin, dass viele der tierischen „Kumpels“ nach ihrer Pensionierung auch wieder über Tage gebracht wurden. Ein bisschen hat mich das beruhigt, damals als Kind.
Hätte er nur nichts über die Kanarienvögel erzählt!
Mein Vater ist ein sehr gewissenhafter Mensch, ein sehr guter Lehrer, der möchte, dass seine Schüler etwas lernen – egal, ob Studenten oder die eigenen Töchter. Und offenbar hatte er mich, damals etwa vier Jahre alt, wohl überschätzt, was die Einsicht anbelangte, mit der man erkennt, dass zu Zeiten vor anderen Hilfsmitteln, die vor „mattem“ oder gar „schlagendem“ oder – auch ganz schlimm – „bösem“ „Wetter“ warnen, eben Kanarienvögel als Indikatoren herhalten mussten. Und so erklärte er mir ganz arglos, dass die Bergleute die Kanaris in kleinen Käfigen mit sich geführt hätten. Kippte solch ein Kanari von der Stange, war klar, dass in dem Abschnitt unter Umständen Grubengas austrat. Der kleine Vogel zeigte das durch seinen Tod an, und die Bergleute waren gewarnt und zogen sich zurück. Das erklärte mein Vater mir ganz sachlich.
Der Aufruhr, mit dem er nicht gerechnet hatte, war groß! Wie konnte man nur? Die armen, unschuldigen kleinen Vögelchen! Arglos missbraucht! Ich reagierte heftig, damals als kleines Kind. Mein Vater war schockiert, meine Mutter grinste. Immerhin schien das Kind, das einen natürlichen Berg von einer Bergehalde nicht unterscheiden konnte, zumindest ein gesundes Gespür für Ungerechtigkeiten und tierfeindliches Betragen an den Tag zu legen. 😉 (Meine Mutter kommt aus Franken, und da gibt es keinen Steinkohlebergbau. 😉 )
Es hat lange gedauert, bis ich verstand, dass die kleinen Vögel Lebensretter waren, mit denen man durchaus gut umging und deren – wenn auch unfreiwillig geschehenen – Einsatz man mehr als schätzte. Vielleicht hätte mein Vater mir das Ganze einfach nicht erzählen sollen, als „Karlchen“, der Kanarienvogel meiner Schwester, gerade Einzug in unsere Familie gehalten hatte. Der war doch so süß! 😉
Heute macht mir kaum einer etwas vor, wenn es um Bergbau geht. Ich kenne – fast – alle Gegebenheiten, zumindest die Begriffe. Keiner führt mich aufs Glatteis, wenn es um einen „Alten Mann“ geht, um das „Hangende“ oder „Liegende“ und so viele weitere Fachbegriffe. Meine Mutter sagt dazu nur: „Toll, Ali – aber schöner wird es hier deswegen noch immer nicht.“
Aber sie ist die Erste, die sofort alles hier verteidigt, wenn irgendjemand von außerhalb Kritik übt. Wir sind einander sehr ähnlich. 😉
Einen schönen Feiertag wünsche ich euch mitten „aussm Pott“! 🙂