Gerade habe ich in der Zeitung mit den drei Buchstaben einen Artikel gelesen, der bis vor kurzem noch kommentierbar war. Jetzt nicht mehr, man hat die Kommentarfunktion stillgelegt. Ich verstehe solche Stilllegungen nicht immer – hier schon.
Heute ist am Hauptbahnhof in Essen ein kleines, dreijähriges Mädchen aus Syrien von seinen Eltern getrennt worden. Die Eltern hatten ihre Sachen in den Zug geladen, mit dem sie fahren wollten oder sollten; beide standen sie im Zug. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass die Türen so schnell schließen würden, und so blieb die kleine Tochter am Bahnsteig zurück, als der Zug – für die Eltern unerwartet schnell – abfuhr.
Ich stelle mir das grauenvoll vor. Da bleibt so eine kleine Maus, die die Sprache nicht versteht, ganz allein am Bahnsteig zurück. Ich möchte mir weder vorstellen, was in den Eltern, noch in dem kleinen Mädchen vorging. Zum Glück kümmerte sich eine Frau um die Kleine, versuchte, zu trösten und zu veranlassen, dass die Eltern ausfindig gemacht wurden, die mit dem Zug unterwegs und sicherlich in heller Aufregung und Panik waren. Ich möchte mir nicht vorstellen, in einer solchen Situation zu sein. Nicht einmal, wenn ich in meinem Land wäre, dessen Sprache ich nicht nur verstehe, sondern sinnstiftend sprechen kann.
Die Eltern sind am nächsten Halt ausgestiegen und haben ihrerseits Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, mit ihrer kleinen Tochter wieder zusammengeführt zu werden. Letzten Endes hat das auch geklappt – eineinhalb Stunden Grauen für die Familie, bis es soweit war.
Ich atmete auf, als ich las, dass alles gut ausgegangen sei.
Dann sah ich die Kommentare unter dem Artikel, las sie durch. Und mir wurde schlecht. Es war kaum einer dabei, der nicht kübelweise Häme über dieser Familie ausschüttete. Da wurde gelästert, dass in Syrien die Zugtüren wohl langsamer schlössen – falls es an syrischen Zügen überhaupt Türen gebe! Wie doof die Eltern denn seien! Hahaha! Und dass sie sich hoffentlich an die Schnelligkeit der Züge gewöhnen würden, wenn man sie – hoffentlich bald! – zurückschicke, mitsamt dem heulenden Balg! Und so fort.
Es war schrecklich, das zu lesen. Ich war schockiert. Nun ist es nicht so – das gebe ich zu -, dass ich die Flüchtlings- und Asylpolitik unkritisch beklatsche. Nein. Durchaus nicht. Es gibt so viele Dinge, die ich daran nicht verstehen kann. Es hat sich hier einiges zum Schlechteren gewandelt – so ehrlich, das zuzugeben, muss man meines Erachtens sein, um glaubwürdig zu bleiben. Und ich gebe zu: Es kotzen mich viele Dinge an. Wenn zum Beispiel von Politikern behauptet wird, es gebe hier keine No-Go-Areas. Alles sei prächtig und wunderbar. Nein. Das ist es nicht. Und diese Stadt hier wird nicht besser. Es nervt vieles. Das gebe ich zu.
Dass all das an einer Familie ausgelassen wird, was anderswo verfehlt wurde, kotzt mich aber noch viel mehr an. Zu Recht monieren viele Leute, dass ja viele junge Männer ohne Pässe in dieses Land einreisten, unzureichend kontrolliert – wo denn die vielbeschworenen Kriegsflüchtlingsfamilien seien? Und dann kommt eine, hat entsetzliches Pech – und es wird gelästert und Häme ausgeschüttet, dass einem die Tränen kommen. Die Tränen der Wut.
Woran liegt das? Liegt es daran, dass die Medien lange Zeit unliebsame Vorfälle vertuschten? Das könnte ich zumindest noch nachvollziehen. Aber Häme über einer zu Recht verzweifelten Familie auszuschütten – das ist auch für mich zuviel, und ich habe schon einige menschliche Abgründe miterlebt. Es bestürzte mich bereits, mehrfach lesen zu müssen, dass ja der Frau, die sich des kleinen, bitterlich weinenden Mädchens angenommen hatte, absolutes Lob auszusprechen sei. Keine Frage, da ist was dran, denn das ist sehr lieb gewesen. Aber sind wir schon so weit, dass wir normale, positiv menschliche Handlungen exorbitant loben müssen?
Ich meine, ist es denn nicht mehr normal, dass man, wenn man an einem Bahnhof steht und ein solches Szenario miterlebt, ein kleines, winziges Püppchen, das weinend und verzweifelt nach seinen Eltern ruft, hingeht und die Kleine zu trösten und zu helfen versucht? Ich hätte das auch getan, und ich ging bis dato davon aus, dass das recht normal und im Grunde nicht der Rede wert sei. Ohne die Hilfe der Frau in Frage stellen zu wollen, die ich auch sehr menschlich und schön fand: Ist es schon so weit, dass man so etwas hervorheben muss?
Aber noch hinzugehen und zu lästern – das ist wirklich widerlich. Vielleicht geht es solchen Leuten zu gut. Ich weiß es nicht.
Ich verstehe allerdings seit heute meine Oma noch viel besser, die im Zweiten Weltkrieg mit zwei kleinen Kindern aus dem Osten, wie das so schön heißt, flüchten musste – knapp vor der russischen Front, und das mit allen nur denkbaren Widrigkeiten. Ich bin mit diesen Geschichten aufgewachsen und fand sie als Kind schon sehr bedrohlich. „Flucht“ gehört zu den Begriffen, die ich als wirklich bedrohlich empfinde, denn ich habe all die Geschichten verinnerlicht, die meine Oma erzählte. Auch die davon, wie es war, als sie im Westen eintrafen und wie „reizend“ sie dort behandelt wurden. Als wollten sie nur eines: die Ansässigen um ihr Eigentum bringen. Überall voller Argwohn betrachtet. Zum Glück hat sich das wohl gegeben, als die Ureinwohner der Region, in der Oma nebst Kindern landete, sahen, dass es sich um ganz normale Menschen handelte.
Und man muss bedenken: Meine Oma und ihre beiden Kinder waren bzw. sind Deutsche. Genau wie die Ureinwohner der Region, in der sie landeten.
Meine Einstellung zur Flüchtlingspolitik wird sich sicherlich nicht ändern – zu viele Aspekte sind kritikwürdig, und manche Dinge sind unglaublich und machen wütend. Aber das, was ich heute unter dem Artikel las, macht genauso wütend, weil es einfach unfassbar ist.
Und da reden sie alle von Werten, die es zu verteidigen und zu bewahren gelte! Wenn ich dann so etwas lese, frage ich mich: Welche Werte sollen das genau sein?
Schönen Abend!