Nein, das hier wird keine Tirade darüber, dass Erst- oder Zweitgeborene – je nach Perspektive – es schwerer oder leichter hätten als der jeweils andere Part. Vor- wie Nachteile sind da, glaube ich, ziemlich gleichmäßig und gerecht verteilt. 😉
Ich hatte nur neulich ein interessantes Gespräch mit unserer studentischen Hilfskraft, in dem es um diese Thematik ging, und wir haben viel gelacht. Thorben ist der Ältere von zwei Geschwistern, hat noch eine jüngere Schwester.
Ich weiß gar nicht mehr, wie wir auf dieses Thema kamen. In jedem Falle erzählte Thorben, er sei immer ein ganz liebes und ruhiges Kind gewesen, stets brav. Habe man ihm gesagt: „Bleib da schön sitzen,“, so hätte man sich darauf verlassen können, dass er sich auch daran gehalten hätte.
Ähnliches habe ich über die Jahre wieder und wieder über meine Schwester Stephanie gehört. Meine Eltern waren stets des Lobes voll, wenn sie über diese Eigenschaft meiner älteren Schwester sprachen. Fiel dann ihr Blick auf mich, wechselte dessen Ausdruck eher zu leiser Resignation, gepaart mit noch leiserem Amüsement.
Zwar war auch ich ein eher ruhiges Kind, aber bei mir musste man die Redensart: „In der Ruhe liegt die Kraft“ ganz anders interpretieren, als dies für gewöhnlich der Fall ist. Denn ging ich auch ruhig zu Werke, hieß das nicht, dass im Zuge meiner – nicht selten destruktiven – Tätigkeit auch weiterhin Ruhe geherrscht hätte. Nicht immer.
Meine Schwester, die über meine Ankunft in der Familie nicht ganz so glücklich gewesen war wie meine Eltern – was ich jedoch verstehen kann -, berichtet noch heute voller Entrüstung, welch Aufstand man um mich bisweilen gemacht hätte. Einmal sei man im Aufbruch zu meinen Großeltern begriffen gewesen. Sie sei im Kinderzimmer gewesen, meine Mutter im Bad, und mein Vater habe sich wohl im Schlafzimmer gerade eine Krawatte umgebunden, während ich im ziemlich großen Flur unserer damaligen Wohnung auf dem Boden herumgerobbt sei – ich befand mich wohl noch in der Prä-Krabbelphase.
Plötzlich sirenenähnliches Geschrei aus dem Flur, und meine Eltern seien wie zwei panische geölte Blitze aus verschiedenen Richtungen in den Flur gerast, und auch sie sei eher genervt hinzugekommen. Da stak ich unter einem schmiedeeisernen Tischchen mit Marmorplatte fest, dessen vier Beine durch zwei ebenfalls schmiedeeiserne diagonale Streben miteinander verbunden waren. Das Werk eines Verwandten, der Kunstschlosser gewesen war. Wohl hauptsächlich deswegen stand es da, denn so richtig schön war es nicht und entsprach auch gar nicht dem Geschmack meiner Eltern. Stephanie erzählt noch heute voller Entrüstung, wie meine Eltern voller Sorge beruhigend auf die kleine Sirene, also mich, einredeten, man rasch Telefon und Telefonbuch nebst anderen Dingen von dem Tischchen nahm, das mein Vater dann hochheben musste, während meine Mutter mich rasch zur Seite nahm.
„So ein Aufstand! Und dann musstest du noch getröstet werden! Dabei warst du doch selber schuld – Ungeschickt lässt grüßen! Ich bin ja nie unter dem Tisch steckengeblieben!“ So die Worte meiner Schwester. 😉
Aber auch meine Mutter erzählte immer gern, dass man mich eigentlich nicht mal eine Sekunde aus den Augen lassen konnte. Einmal hatte sie einen Anruf von einer Freundin bekommen – da war ich wohl im gleichen Alter wie bei meinem Missgeschick mit dem Tischchen. Sie war mit mir in der Küche gewesen, wo ich, vor mich hinbrabbelnd, auf dem Fußboden herumgerobbt sei. Als das Telefon klingelte, sei sie in den Flur gegangen, zu besagtem Tischchen, und habe den Hörer abgenommen und sich gemeldet. Eine Freundin war dran, die, wie sie sagte, nur eine kurze Frage hatte. Meine Mutter meinte, sie habe leider auch nicht so viel Zeit: „Ich muss wieder in die Küche – Ali ist allein. Zwar kann sie nicht viel anrichten, weil sie ja noch nirgendwo drankommt. Aber bei ihr weiß man nie …“ Nett … 😉 (Hier kann man den Vorteil mobiler Telefone deutlich erkennen – unseres hatte damals eine sehr kurze Leitung, weshalb man es auch nicht mit in die Küche nehmen konnte … Ein ganz eindeutiger Nachteil. 😉 )
Die Frage der Freundin dauerte dann doch etwas länger. Zwar nicht übermäßig, aber meine Mutter war doch etwas unruhig, zumal das fröhliche Gebrabbel meiner Wenigkeit verstummt war. Es bestand Alarmstufe Rot, denn wenn man von mir gar nichts hörte, war stets Gefahr im Verzug. Und so meinte sie zu ihrer Freundin: „Einen Moment, Ute, ich lege dich mal kurz an die Seite. Ich muss mal kurz nachsehen, denn in der Küche ist es so verdächtig still. Ich bin gleich wieder da …“
Sie war schneller wieder am Telefon, als sie wohl selbst erwartet hatte. „Ute? Ich muss auflegen! Es ist nicht zu fassen – Ali hat den Spülenunterschrank aufgemacht! Weiß der Henker, wie sie das geschafft hat, denn die Tür klemmt und geht nur sehr schwer auf! Ich rufe dich später zurück!“
Es war in der Tat so, dass ich nicht nur den Spülenunterschrank geöffnet hatte, in dem meine Mutter sämtliche Putz- und Waschmittel aufbewahrte. Nein, das wäre ja auch zu langweilig gewesen. Wie auch immer dies gelingen konnte, hatte ich das Waschpulverpaket und ein Paket Wäschestärke herausgezogen und beide umgekippt. Offenbar fasziniert hatte ich gesehen, dass aus beiden ein weißes Pulver rann, und so hatte ich dafür gesorgt, dass noch mehr herauskam, bis beide Packungen geleert waren. Damit aber nicht genug … Ich hatte das Pulver fein säuberlich in der ganzen Küche verteilt und robbte, als meine Mutter hinzukam, gerade ganz verzückt durch die weiße Pracht. Schnee in der Küche! Dabei war nicht einmal Winter.
Meine Mutter war hellauf begeistert, untersuchte mich jedoch zunächst gründlich, ob ich irgendwie Schaum vor dem oder im Mund hatte. Was dachte sie denn von mir! Als würde ich so etwas gegessen haben! Ich wollte doch nur damit spielen und nicht essen!
Man war danach vorgewarnt, und immer, wenn von mir gar nichts zu hören war, war man in erhöhter Alarmbereitschaft. Auch, als ich schon etwas größer war. So hatte meine Mutter mich als Dreijährige mal im Bad nur kurz alleingelassen, und das mit diversen Ermahnungen, als sie etwas aus einem anderen Zimmer holen wollte. Als sie ziemlich schnell zurückkehrte, hatte ich mein Werk der Zerstörung schon beendet. Ich stand vor meiner Mutter mit gekürzten Ponyfransen und einer dicken Schicht Bebe-Creme im Gesicht, allerdings mit Wischspuren versehen. Die Creme roch so gut, und ich fand, dass meine Mutter immer viel zu sparsam damit umging. Allerdings hatte ich dann selber bemerkt, dass es nicht meine beste Idee gewesen war, gleich eine ganze Handvoll davon ins Gesicht zu schmieren, auch in den Pony, der mir nun fast in die Augen reichte. Die Fransen nervten gehörig und ließen sich auch nur schlecht zur Seite wischen. Da gab’s nur eins: Die mussten ab! Und so kletterte ich auf den Badewannenrand und erreichte so die Ablage unter dem Spiegelschrank. Da lag die Nagelschere … Und mit ihr in der Hand kletterte ich – erstaunlicherweise, ohne zu verunglücken – wieder hinunter und säbelte kurzerhand mit der Schere die störenden Fransen ab. So. Jetzt war es doch schon viel besser. Nur die Creme an den Händen störte doch massiv. Und so griff ich nach dem nächstbesten Handtuch. Und als das nicht reichte, nach dem nächsten … Meine Mutter traf fast der Schlag, und sie hat vor Schreck ziemlich laut geschrien, als sie die Bescherung, binnen kürzester Zeit spontan durchgeführt und vollendet, sah. Fortan waren Nagelschere, Creme und sonstige Gefahrenquellen gut verschlossen. Derlei Maßnahmen waren bei Stephanie nie notwendig gewesen. Sagte man ihr: „Geh da nicht dran,“, dann ging sie da nicht dran. Aber hier war komplettes Umdenken gefragt, weil ich ständig irgendeinen Blödsinn machte, der mir hingegen nicht wie solcher erschien, sondern eher total vernünftig. 😉
Meine Mutter meinte immer: „Du hast immer freundlich gelächelt und einen im Glauben gelassen, du würdest dich an die Vorgaben halten. Und wahrscheinlich hast du dabei gedacht: ‚Ja, ja – erzähl du nur.’“ Aber ich glaube, so war es gar nicht. Ich fand meine Ideen immer absolut sinnvoll … 😉 Erstaunlich, dass meine Mutter sich gar nicht so darüber freuen konnte, wie selbstständig ich war … 😉
Wenn jemand sich die Knie aufschlug, trotz Warnung in irgendwelche Mauerspalten segelte und heulend und mit heftigen Schürfwunden daraus geborgen werden musste oder sich mit revanchistischen Entenmüttern anlegte, weil er eines der Entenküken in die Hand nahm und damit begeistert zu Muttern eilte, um ihr das süße, piepsende Kerlchen zu zeigen, die daraufhin sehr energisch meinte: „Setz sofort die kleine Ente wieder hin! Die hat doch Angst! Sieh mal, da kommt schon die Mutter angerannt!“, war ich es. Niemals Stephanie. Die ist nie von einer Ente gebissen worden. Die musste auch nie aus einer Mauerspalte gezogen werden. Und ich kenne kein einziges Kinderfoto, auf dem Stephanie aufgeschlagene Knie gehabt hätte. Von mir hingegen diverse.
Früher dachte ich, nur ich sei so, da ich in meiner Familie das einzige „jüngere Geschwister“ bin und keiner meiner nächsten Verwandten je durch Blödsinn aufgefallen war. Aber dann bekam ich mehr und mehr mit, dass ich nicht allein war. Und erstaunlicherweise waren es meist die Zweitgeborenen, die sich durch diese Art kennzeichneten. Machten immer mehr Blödsinn als die Älteren, waren häufiger in der Bredouille als diese. Sehr merkwürdig.
Thorben erzählte Ähnliches von seiner Schwester, dann sah er mich an und meinte: „Du bist doch auch die Jüngere von zwei Geschwistern, nicht wahr?“ Ich grinste und meinte: „Ja. Und was du da über deine Schwester erzählst, finde ich sehr sympathisch. Ich erkenne da ein gewisses Muster …“ Und ich erzählte ihm ein paar Dinge aus meiner Kindheit, die er mit: „Och, wie süß!“ quittierte und lachte.
Meine Mutter fand das, glaube ich, damals gar nicht so süß. „Ich verstehe bis heute nicht, wie schnell du immer sein konntest, wenn du wieder irgendeinen Unsinn verzapft hast! Du warst sonst immer eher bedächtig, auch in deinen Bewegungen. Aber drehte man dir nur kurz den Rücken, warst du immer blitzschnell.“ Ja, ist doch auch klar! Die anderen in Sicherheit wiegen – und dann zuschlagen. So geht das! 😉
Ehrlich gestanden: Es ist mir noch heute immer etwas unangenehm, wenn mal wieder all die lustigen Geschichten aus meiner Kindheit erzählt werden. Möglichst noch vor Publikum, das mich gerade zum ersten Mal sieht. Ich komme mir immer wie l’idiot de la famille vor … 😉 Warum ich dann selber davon erzähle? Hmmm, ich sehe es als eine Art „Abhärtung“. Zumal ich morgen zu einer Familienfeier fahre … 😉
Ich weiß nur eines: Ich habe meine vernünftigere Schwester nicht selten beneidet und tue das auch heute noch bisweilen. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber mir passieren manchmal die beklopptesten Dinge, die ihr nie passieren würden. Ob ein Fluch auf mir lastet? 😉