Achtung: (Erst-)Helfersyndrom!

Es ist jetzt knapp viereinhalb Jahre her, dass ich mich überzeugt habe, bei meinem Arbeitgeber als Ersthelferin tätig zu werden. Lange hatte ich mich dagegen gesträubt, weil Ex-Kollege Birger stets insistierend auf mich einredete, ich müsse aber auch … Schließlich sei auch er Ersthelfer!

Im Prinzip wäre ich ja gerne Ersthelferin geworden, allein, mich störte dieses Insistieren und Fordern sehr, da ich Dinge gern selbst entscheide. Und so wurde ich erst viel später Ersthelferin, als ich eigentlich gewollt hatte. Nur sollte Birger nicht glauben, ich machte es seiner „Überzeugungs“arbeit wegen. Und eines Tages, etwa vier Monate vor einem Ersthelfer-Einstiegslehrgang, überraschte ich ihn damit, dass ich sagte, ich hätte mich für den Lehrgang angemeldet. Da war er begeistert und meinte: „Habe ich dich endlich überzeugt!“ – „Nein. Du hast mich nicht einmal überreden können. Das war meine eigene Entscheidung. Und ich hätte mich schon viel eher dazu entschieden, hättest du mich nicht dauernd genötigt. So etwas schreckt ab.“

Tatsache ist, dass ich immer schon einen sozialen Beruf gewollt hatte, was aber nicht umsetzbar gewesen war, da man anderes von mir erwartete. Und eine weitere Tatsache: Ich helfe durchaus gern, und das ganz freiwillig und ohne Hintergedanken. Das war der Grund für meine Entscheidung. Hinzu kam, dass ich weiß, dass viele Menschen zwar Hilfe in Notsituationen wünschen, aber ungern freiwillig solche Aufgaben übernehmen. Und zum Dritten finde ich, kann gar nicht schaden, zu wissen, was man generell in Notsituationen tun kann und muss. Denn moralisch – oder besser: ethisch – zur Hilfe verpflichtet ist ja im Grunde jeder, vor dessen Augen jemand zusammenbricht, verunglückt oder sonstwie zu Schaden kommt. Und da ich durchaus pragmatisch denke und oft auch so handle, dachte ich mir, es sei besser, dann mehr oder weniger genau zu wissen, was man tue, statt ohne Anleitung zur Tat zu schreiten. Mangel an Anleitung erhöht die Hemmschwelle, und die ist in solchen Fällen möglichst rasch zu überwinden, denn nicht selten ist Eile geboten.

Heute stand ein neuerliches Ersthelfer-Training an, das nach der Grundausbildung alle zwei Jahre für dienstlich bestellte Ersthelfer stattfindet. Das letzte, anno 2014, hatte an einem kühlen, regnerischen fünften Juni, einem Donnerstag, stattgefunden. Heute hingegen war der wohl schwülste Tag der letzten Zeit, und ich ging bereits mit gemischten Gefühlen hin. Ich bin ja nun inzwischen kein echtes Greenhorn mehr, und ich weiß, was da alles trainiert wird. Durchaus schweißtreibende und anstrengende Dinge. Und da ich selber bei solch schwüler Witterung öfter ein kleines Kreislaufproblem habe, dachte ich: „Am Ende brauchen wir den Dummy gar nicht, sondern du liegst dann da auf der Decke in der Mitte und wirst schlimmstenfalls reanimiert.“

Zugegeben, keine schönen Gedanken, und ich schob sie rasch beiseite, als ich morgens mit Scotty zu meiner Arbeitsstelle fuhr. Ich war nicht übermäßig früh da, und als ich gerade mit fliegenden Fingern im Büro die wichtigsten Dinge des Tagesgeschäfts vorbereitete, stand meine Kollegin Anna, mit der ich von 2004 bis 2005 in einem Büro gesessen hatte, in der Tür und meinte: „Na, Ali – fertig?“ – „Fast!“ – „Ich warte auf dich. Der Ausbilder vom letzten Mal hat doch gesagt, wir arbeiteten so gut im Team, und das war auch lustig.“ O ja. Ich erinnerte mich. 😉

Wir gingen dann zusammen in den Sitzungsraum, in dem die Maßnahme stattfinden sollte, fanden zwei Plätze nebeneinander und frotzelten etwas mit unserem Hausmeister herum, der ebenfalls Ersthelfer ist. Der Ausbilder vom Roten Kreuz, der vorne im Raum stand, ließ seinen Blick über unsere Gruppe schweifen, und ich dachte: „Der denkt jetzt sicher: ‚Na, bei den Öffentlicher-Dienst-Hanseln erwarte ich besser nicht zuviel‘!“

Vorweggenommen: Es war das beste Training, das ich bisher erleben durfte. Der Ausbilder, ein Rheinländer, war witzig und – wie viele Ausbilder dieses Bereichs – Sarkastiker. Sehr schön. Es war keine Minute langweilig, und wir mussten auch keine fiesen Bilder von noch fieseren Verletzungen ansehen. Keine von Arbeitsmaschinen abgerissenen Arme mit zickzackförmigen Abrisskanten, keine offenen Frakturen, aus denen die Knochen gelblich-weiß herausragen, keine ekelhaft aussehenden Augenverletzungen und keine Verbrennungen zweiten und – noch schlimmer! – dritten Grades.

Nachdem er uns erklärt hatte, dass die Ersthelferausbildung sich seit 2014/2015 grundlegend anders ausgerichtet habe, stellten wir zu unserer Überraschung fest, dass sich die neuen Bestimmungen stark auf Erste Hilfe im Straßenverkehr ausgeweitet hatten – etwas, das ich sehr gut fand. Denn die Maßnahmen, die man als Ersthelfer ergreifen muss, sind in geschlossenen Räumen zwar nicht anders als auf der Straße, aber auf der Straße kommen ja noch diverse Dinge hinzu, die zu beachten sind, in den bisherigen Trainingseinheiten aber eher theoretisch und am Rande behandelt wurden. (Bis auf das Entfernen eines Motorradhelms vom Kopf eines Verunglückten. Da habe ich mich – feige, ich gebe es zu! – bis dato immer zurückgehalten, aber gut zugesehen und -gehört.)

Nach diesen Präliminarien durften wir zunächst im Sitzungsraum üben, wie man einen Verletzten aus einem Auto berge. Zwei nebeneinandergestellte Stühle dienten als Fahrer- und Beifahrersitz. Aber diese „praktischen“ Übungen entpuppten sich als „graue Theorie“, als wir nach einer kleinen Pause, zu drei handlichen Gruppen zusammengefasst, in brüllender Hitze vor dem Haupteingang meines Arbeitgebers an einem realen Auto drei verschiedene Unfallszenarien proben mussten. (Hinterher bescheinigte der Ausbilder mir eine ausgeprägte schauspielerische Begabung: Keiner habe so schön die Bewusstlose auf dem Beifahrersitz gemimt. Ebenso hätte ich eine wunderbare Fahrerin abgegeben, die eine stark blutende Kopfverletzung habe. Ihm hatte wohl imponiert, wie ich rief: „Hören Sie, machen Sie hin und diskutieren Sie nicht – mir suppt die Brühe schon in die Augen! Soll ich Ihnen vielleicht helfen?“ Da hatten meine Kollegen gerade eine bereits benutzte Mullbinde mit Wundauflage mühsam aufgerollt, statt einfach eine neue zu nehmen! 😉 Und der Dritte kam nicht „in time“ in die Einmal-Latexhandschuhe! Aber immerhin redete er die ganze Zeit beruhigend auf mich ein – ganz wichtig bei der Ersthilfe, wenn der Verletzte ansprechbar ist. By the way: Die Kolleginnen, die die Mullbinde aufrollten, mag ich beide, und wir verstehen einander gut – aber von der sparsamen Truppe zu sein, kann sich gerade im Ersthilfe-Fall böse rächen … )

Immerhin gelang es ihnen dann, mich vom Auto wegzuschleppen und auf eine Unterlage zu betten. Und je nach Situation wurde ich entweder in die stabile Seitenlage gebracht (da, als ich „bewusstlos“, aber mit normaler Atmung und Puls war), oder meine Beine wurden hochgelagert, ebenso mein Kopf abgestützt (schlimm blutende Wunde am inneren Unterarm mit Druckverband und einsetzendem Schwindel nebst zu harter Unterlage unter dem Kopf, was den Mangel an Wohlbefinden verstärkte – laut „Regieanweisung“). Am schlimmsten war, dass wir auch noch immer frieren „mussten“, weswegen wir – bei den heutigen Temperaturen reine Folter! – auch noch in eine Rettungsdecke gepackt wurden, eine dieser auf einer Seite gold-, auf der anderen Seite silberfarbenen Folien! Ich gestehe: Als ich zum dritten Male in brüllender Hitze in eine dieser „Decken“ gewickelt wurde, schwanden mir irgendwann, als ich flach auf der Unterlage lag und in den strahlend blauen Himmel blickte, tatsächlich fast die Sinne, aber ich dachte mir nur: „Der Ausbilder ist Rettungssanitäter. Es kann im Grunde gar nichts passieren.“ Danach musste ich dann als Helferin agieren – trotz aller Verantwortung heute die angenehmere Aufgabe, da der Teil: „Rettungsdecke, passiver Part“ wegfällt. 😉 Und ich habe voller Elan meiner Kollegin Claudia, die, ebenfalls schauspielerisch begabt, schreiend hinter dem Fahrersitz saß – „stark blutende Unterarmwunde“ – einen Druckverband angelegt.

Nach der Mittagspause ging es weiter, denn das „Schlimmste“ stand an: Reanimationsübung. Und wir arbeiteten im fliegenden Wechsel an einem Dummy, an dem wir – ebenfalls im Wechsel, hier: 30:2 – Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung üben mussten. Sowohl allein als auch mit einem Zweit-Ersthelfer, der mit dem rettenden Defibrillator, kurz: „Defi“, zu Hilfe eilte. 😉

Beim letzten Training hatten wir nur Mund-zu-Nase-Beatmung üben dürfen. Schwierig, schwierig, kann ich nur sagen. Mund-zu-Mund ging erheblich leichter. Zumindest am Dummy. (Und mit der Anweisung des Ausbilders, wir sollten uns einfach vorstellen, einen Zungenkuss verabreichen zu wollen – so müsse man den Mund ansetzen. Naja, wenn’s weiter nichts war … 😉 ) Man musste nur seine Nase zuhalten und dann pointiert und mit Nachdruck beatmen. Dann wieder 30x pumpen. Wo, war leicht zu erkennen – zumindest am Dummy, denn der zeigte eindeutige Nutzungserscheinungen am Brustbein. 😉

Zwei der teilnehmenden Damen hatten heute weiter ausgeschnittene Oberteile an. Eine davon war ich, und schon bei der Kollegin Dorothee hatte ich mit Sorge gesehen, dass sie sowohl bei der von ihr verabreichten Herzdruckmassage wie auch der Beatmung des Dummys mehr zeigte, als ihr wohl bewusst war. Und Anna grinste mich von nebenan auch noch an und meinte: „Bin ich froh, dass ich heute ein Poloshirt angezogen habe!“ Ich grinste schief, und da fiel Annas Blick auf mein Dekolleté, und sie erlitt einen Lachanfall. Ich lachte auch, und da rief der Ausbilder, der leider alles mitbekam: „Worüber lachen Sie denn da gerade?“ Anna rief vorlaut: „Über Frau B.s Ausschnitt!“ Ich lachte auch – ich kann durchaus über mich selber lachen. Und so habe ich vor den Augen sämtlicher männlicher Teilnehmer auch pflichtschuldigst reanimiert, pries jedoch in diesem Falle den Umstand, dass ich Rechtshänderin bin und daher links vom Dummy kniete, sämtliche männlichen Teilnehmer in meinem Rücken. 😉 Immerhin lobte mich der Ausbilder (er saß links von mir, die ich am Boden kniete und herzdruckmassierte und beatmete, auf einem Stuhl) – das sähe doch prima aus, was ich da machte … 😉

Alles in allem ein sehr gelungenes Training, wenn ich auch zwischenzeitlich aufgrund der Hitze und Schwüle selber kurz vor dem Knockout stand, vor allem bei der letzten Übung, als ich eine Verletzte mimen musste, die sich bei einer Arbeit einen Finger amputiert habe. Wie da an mir herumgerissen wurde, ging auf keine Kuhhaut! Mein rechter Arm wurde in die Höhe gerissen, um die Blutung, die – nach einer Weile – dann doch noch eingesetzt habe, möglichst gering zu halten, während ich: „Habt ihr meinen Finger gefunden und gekühlt?“ rief. Man wertete meine durchaus nachvollziehbare Frage wohl als Auswirkung eines Schocks und brachte mich schneller, als ich „Hallo!“ rufen konnte, in Schocklage, legte meine Beine hoch, hielt meinen Arm so hoch, dass es schmerzte, und dann wickelte man mir – der plötzlich einsetzenden starken „Blutung“ wegen – noch einen Verband um den „Stumpf“. Da wurde mir tatsächlich etwas flau … 😉

Aber als ich meinen Kollegen Ralf, den Hausmeister, der vorgeblich unter einer unangenehmen Augenverletzung aufgrund eines größeren Glassplitters, der – ebenso vorgeblich – frontal in seinem Auge stak, litt, zusätzlich unter starkem Nasenbluten, mit einem Verband um beide Augen, durch eine noch zusammengerollte Mullbinde auf seiner Nase auf Abstand zum Augapfel gehalten, sowie einem Icepack im Nacken dasitzen sah, kam ich rasch wieder zu mir – der sah ja noch bescheuerter aus als ich! Und ich musste lachen. Gleich ging es mir wieder gut. 😉

Wirklich eine gelungene Veranstaltung, und ich fühle mich gleich viel sicherer, falls doch mal der Fall der Fälle eintreten sollte. Viel dazugelernt, und das in netter Atmosphäre. Eindeutig zum Nachmachen geeignet – ich kann es nur jedem empfehlen. 🙂 Sogar die Kollegin Dorothee, die ich bisher nicht so mochte, entpuppte sich als durchaus sympathischer Mensch. Ihr ging es umgekehrt mit mir wohl ähnlich. Also: Nachmachen! 😉

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