“Jeden Tag eine gute Tat” – so wird häufig ein Motto der Pfadfinder zitiert. Früher dachte ich immer, dass das recht penetrant wirke, darüber hinaus auch noch so gezwungen. Und Druck, Zwang und Bedrängnis konnte ich noch nie so recht ertragen – weder physisch, noch im übertragenen Sinne.
Irgendwann dann begriff ich jedoch, dass hinter diesem Motto mehr steckt. Und heute verstehe ich es mehr im Sinne des kategorischen Imperativs. Man muss – meiner Auffassung nach – also gar nicht hingehen und sich großartig verbiegen, um mit Macht eine gute Tat zu begehen; es bedarf nur eines Minimums an Achtsamkeit und Aufgeschlossenheit. Und man darf sich nie unter Druck setzen oder gar ein schlechtes Gewissen haben, wenn man vielleicht einen schlechten Tag hatte und dann entsetzt denkt: „Ich war heute aber gar nicht nett – ich bin ein schlechter Mensch!“ Falsch. Jeder hat das Recht auf schlechte Tage. Wenn sie – wie bei mir im Moment leider so ein bisschen die Tendenz – überhand zu nehmen scheinen, braucht man entweder eine Auszeit oder sollte darüber nachdenken, was denn dafür Ursache sein könnte. Dann sollte man versuchen, etwas zu ändern. Sofern möglich. Nicht immer ist das der Fall. Dann sollte man Ruhe bewahren – viele Dinge regeln sich von selbst. Klingt gar nicht so unklug, nicht wahr? Und das von mir! Ich gestehe aber, ich habe lange gebraucht, das in meinen Kopf zu bekommen, und es gelingt mir selbst vor dem Hintergrund dieser Einsicht nicht immer, danach zu handeln. Die theoretische Kenntnis ist nicht immer so leicht in die Praxis umzusetzen. Denn wenn ich mich beispielsweise ungerecht behandelt fühle, was aber auch wirklich plausible Gründe haben, fundiert sein muss – keine Kinkerlitzchen! -, verwandle ich mich nicht selten in „Schmitz‘ Katze“.
Wichtig ist in jedem Falle, dass man ganz freiwillig und ohne Hintergedanken handelt – am besten uneigennützig. Auch das nicht ganz leicht. 😉
Ich habe heute schon eine gute Tat getan. 😉 Ganz freiwillig und gern. Denn mein früherer Vorgesetzter Andrew, ehemaliger Leiter meines Fachbereichs an der Universität, an der ich bis letztes Jahr Seminare leitete, braucht ein bisschen Hilfe. Er ist nicht nur Dozent, sondern auch Musiker, wie so viele meiner ehemaligen Philologen-Kollegen. (Sprache und Musik scheinen eng miteinander verknüpft, denn auch ich bin sehr mit Musik verbunden, derzeit nur leider nicht aktiv.) Und er beabsichtigt, eine Solo-CD herauszubringen und braucht Unterstützung per Crowdfunding. Es war keine Frage für mich, denn Andrew war ein Super-Vorgesetzter, wusste, wie Wertschätzung geht, und ich war nicht gerade glücklich, als er die Uni verließ, weil er an einer anderen Uni eine Festanstellung bekommen hatte. Obwohl ich mich sehr für ihn freute – er hatte es wirklich verdient. Aber es war ein herber Verlust für uns. Und er ist obendrein auch ein sehr guter Musiker. Da gab es heute gar kein Überlegen, zumal wir einander auch immer gut verstanden hatten.
Der Anfang war lustig. Ich kannte Andrew bis dato nur vom Sehen aus Fachbereichssitzungen und von der Weihnachtsfeier, wo er mit seiner Band spielte. Dann wurde er Fachbereichsleiter, und in diesem Verlauf wollte er auch die Kollegen, die er noch nicht oder nur vom Sehen kannte, in persönlichen Gesprächen kennenlernen. Ich fuhr also eines Nachmittags nach Feierabend bei meinem Haupt-Arbeitgeber mit der Bahn los. Es war ein sehr drückender Tag, und ich hatte Kopfschmerzen. Besonders motiviert war ich daher nicht, dachte aber: „Es wird maximal eine halbe Stunde dauern.“
Im Gegensatz zur mir, die ich wusste, wie Andrew aussieht, wusste er mich nicht zuzuordnen – bis ich dann in seinem Büro stand. „Ach, Sie sind das!“ rief er mit seinem leichten nordenglischen Akzent und begrüßte mich fröhlich. Aber es blieb nicht lange beim Sie, da wir einander auf Anhieb prima verstanden, obendrein noch ähnliche Erfahrungen mit der Gründlichkeit des deutschen Beamtenapparates gemacht hatten, da wir uns beide bereits mehrfach als Quereinsteiger für den Schuldienst beworben hatten. Da gibt es ja immer Riesengeschrei, dass so viele Lehrer fehlten und man dringend und voll warmer Willkommenswünsche Quereinsteiger einstellen wolle. Ergo Fachpersonen, Diplom-Mathematiker, -Physiker, -Chemiker sowie echte Philologen. Die Realität sieht nicht selten ernüchternd aus. Und natürlich gibt es bürokratische Hürden. Denn Andrew ist englischer Germanist, hat also als Engländer in England Germanistik studiert, bei englischen wie deutschen Dozenten, die als „expatriates“ in England leben und lehren. Ich bin quasi das Gegenstück: deutsche Anglistin mit deutschen Dozenten wie englischen „expatriate“-Kollegen. Und so hatte er sich, hier in Deutschland lebend, bereits wiederholt als Englischlehrer an verschiedenen Schulformen beworben, ebenso als Deutschlehrer. Ich hatte mich meinerseits öfter als Englischlehrerin wie auch Deutschlehrerin beworben, denn man braucht als Lehrer ja zwei Fächer mindestens. Und wir beide hatten dasselbe Argument hören müssen, als man uns ablehnte: Ihm, englischer Muttersprachler, hatte man gesagt, dass er ja gar nicht Anglistik studiert hätte und damit hier in Deutschland keine Chance … Ja, genau – man fasst es nicht. Jede Schule würde sich die Finger nach einem muttersprachlichen Fremdsprachenlehrer lecken – hier aber ging es nicht. Weil es nicht gehen sollte oder durfte. Deutsche Gründlichkeit „at its worst“. Ähnliches erklärte man auch mir: „Sie haben aber nicht Germanistik studiert!“ (Nun ist es nicht so, dass man an Schulen derart fundierte Kenntnisse benötigte, die man sich in einem alten Diplom- oder Magisterstudiengang der Prä-Bologna-Ära in Mathematik, Physik, Chemie, Germanistik, Anglistik oder Romanistik aneignete – sowohl Andrew als auch ich hätten qualitativ hochwertig unsere jeweilige Muttersprache unterrichten können, zumal wir beide Literaturwissenschaften studiert haben.) Er hätte als Deutschlehrer arbeiten dürfen, nicht aber als Englischlehrer; ich als Englischlehrerin, aber nicht als Deutschlehrerin – man ließ dann doch Stellen lieber unbesetzt oder vorhandene Lehrämtler fachfremd unterrichten. Sehr hochwertig. Nun ja.
Darüber redeten wir, lachten, lästerten ein wenig – und als wir dann auf die Uhr sahen, waren zweieinhalb Stunden wie im Fluge vorbeigegangen. 😉 Andrew meinte, er müsse sofort los – seine Verlobte warte auf ihn, da man noch zu Ikea wolle. Und ich wollte nach Hause.
Ein wirklich toller Vorgesetzter – schade, dass er ausschied. Und so war es für mich heute eine Freude, ihn zu unterstützen. Sollte das Projekt wirklich zustande kommen, war es aber – ich gebe es zu! – nicht ganz uneigennützig, denn dann bekomme ich ja eine signierte CD. 😉 In jedem Falle war es für eine gute Sache, und ich hoffe, so denken dann auch noch viele andere Leute.
Völlig uneigennützig habe ich dann heute aber auch noch etwas getan, als Janine und ich endlich Feierabend hatten. Sie wurde von ihrem Freund abgeholt, da sie sich heute nicht so gut fühlte. Und während wir vor dem Neubau unseres Arbeitgebers warteten, gesellte sich erst noch ein Kollege und dann unsere studentische Hilfskraft dazu, und wir plauderten ein wenig. Dann musste der Kollege gehen, und da kam auch schon Janines Verlobter. Ich nahm ihr noch das Versprechen ab, dass sie, ginge es ihr morgen nicht besser, bitte zu Hause bleiben möge – Gesundheit gehe vor. Thorben, die studentische Hilfskraft, die öfter mit uns draußen steht und sich mit uns unterhält, wenn wir rauchen, obwohl er selber Nichtraucher ist, meinte: „Fährt einer von euch Richtung G.-B.?“ Ich meinte, ja, ich, und ich könne ihn gern mitnehmen, wenn er sich traue, mit mir zu fahren. Kein Problem, befand Thorben, und er meinte noch, ich schätzte mich wohl zu gering ein. Ich grinste leise – er war noch nie mit mir gefahren …
Ich gestehe, ich war ein wenig nervös. Es war so ähnlich wie früher beim Klavierspielen. Ganz alleine spielte ich am besten. Kaum kamen Zuhörer, baute ich die schrillsten Fehler ein – Fehler, die ich längst ausgemerzt zu haben wähnte. Ich übte daher auch lieber, wenn ich allein war. Ganz gruselig war es dann aber, wenn ich irgendwo vorspielen musste. (Musikschulen veranstalten regelmäßig Vorspielabende, und auch auf meinem Gymnasium mussten immer die armen Irren, die musikinstrumentalisiert waren, vorspielen. Wozu noch diese Strafe? Ich habe es nie verstanden.) Klappte zwar, aber ich war immer ein Nervenbündel, wenn ich mich Richtung Flügel schleppte und auf dem Weg dorthin stets hoffte, sämtliche Saiten in seinem Inneren möchten reißen. Meine Zuhörer meinten hinterher zwar, man hätte mir nichts angemerkt, aber mir war immer so, als stünde ich kurz vor einem Herzinfarkt. 😉
Bei Scotty angelangt, meinte ich: „Klar! Ein Meer freier Parkbuchten – und trotzdem müssen zwei Leute links und rechts neben mir parken! Mir schien nicht, als wäre heute so viel los gewesen, dass hier alles besetzt gewesen sein müsse.“ – „Der Rechte steht wirklich ziemlich dicht dran.“ – „Ja, ich glaube kaum, dass du so einsteigen kannst. Ich fahre erst mal aus der Parklücke raus.“ Und so geschah es. Thorben stieg ganz lässig ein, saß dann erst einmal da und erzählte etwas. Ich meinte grinsend: „Würdest du dich bitte anschnallen? Ich fahre sonst nicht los.“ – „Oh, ja.“
Und schon gab ich Gas und verließ den Parkplatz Richtung Kreisverkehr. Sehr schön, es kam gerade keiner, und ich gab sachte Gas, als dann doch jemand erschien, als ich quasi schon mit Schürze und beiden Vorderreifen im Kreisel war. Da gab ich dann „etwas“ mehr Gas, und Scotty zeigte, dass er ziemlich schnell beschleunigen kann, wenn er denn „will“. 😉 Hui! Ich fahre ja gerne Kurven … Im Fond des Wagens hörte ich etwas von links nach rechts schlittern – meine Tasche. Aus dem Augenwinkel blickte ich zum Beifahrersitz. Thorben saß da total entspannt. Mein letzter und bisher einziger Beifahrer, mein Vater, hatte sich mehrfach hektisch am Haltegriff rechts über seinem Kopf festgehalten, wenn ich beschleunigte … Daher meine Sorge. Aber nichts dergleichen. Und so schnell, wie wir in den Kreisverkehr hineingefahren waren, waren wir auch schon wieder draußen und preschten Richtung Nordring. Die Sonne hatte sich inzwischen verflüchtigt, und es waren erneut Wolken aufgezogen – bald würde es wieder regnen. Und so meinte ich: „Pass auf, ich fahre dich doch zum Busbahnhof. Normalerweise fahre ich da nicht lang, aber ich will nicht, dass du im Regen stehst.“ – „Nein, nein, das musst du doch nicht! Wenn du mich einfach bei ‚Lueg‘ rauslässt, ist es absolut okay.“ – „Na, wohl schon Angst, was?“ – „Wie kommst du darauf? Nein! Im Gegenteil – du fährst doch total souverän. Souverän dynamisch und gut! Ich weiß gar nicht, was du immer hast – ist doch alles bestens!“
Ich freute mich. Endlich mal ein männlicher Beifahrer, der meinen Fahrstil lobt, und es ist nicht mein Vater! 😉 Und das freute mich so, dass ich gleich wieder zu schnell fuhr … 😉 Knapp 100, wo 70 erlaubt ist. Es kann nicht mehr lange dauern, dass ich Post bekomme, wenn es so weitergeht …
Dann ließ ich Thorben an einer Bushaltestelle heraus, winkte fröhlich und fuhr weiter, nachdem ich gesagt hatte: „Wenn du mal wieder mitfahren willst, einfach sagen – ist kein Problem.“ – „Ja – sehr gern!“
Als ich zu Hause ankam, fing es wieder an, wie wild zu schütten. Da tat es mir leid, dass ich Thorben nicht angeboten hatte, ihn nach Hause zu fahren, statt auf den Bus warten zu lassen. Wäre ja kein großer Aufwand gewesen, und die Fahrt war obendrein recht nett gewesen. Aber ich glaube, er hat sich auch so gefreut.
Es ist immer ein schönes Gefühl, anderen zu helfen. Besonders, wenn es freiwillig geschieht. Finde ich jedenfalls. 🙂