Ali mag’s sauer

In meiner Familie ist es legendär, dass ich seit jeher ein Faible für alles habe, was sauer ist. Abgesehen von Menschen, die dies sind, es sei denn, zu Recht.

Das zeigte sich schon im frühen Kleinkindstadium. Standen Gewürz- oder Senfgurken oder – noch besser – eingelegte Silberzwiebeln auf dem Tisch, gab es für mich kein Halten mehr, und jegliches andere Essen trat in den Hintergrund und wurde schmählich von mir missachtet (es sei denn, es gab Roastbeef, das noch heute zu meinen Lieblings-Aufschnittsorten gehört – da machte ich dann eine Ausnahme; und bei Rollmöpsen …). Ich war nahezu süchtig nach eingelegten, sauren Gemüsen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. 😉 Allerdings muss dabei eine gewisse Konsistenz gegeben sein: Gurken müssen gefälligst knackig sein – daher kaufe ich meist auch Cornichons. Es muss – sofern je nach Gemüsesorte möglich – ein gewisser Biss dabei sein. Eine zu weich gekochte Gewürzgurke ist einfach nur eins: bah! Ähnlich enttäuschend wie ein Pfirsich, der von außen wunderschön saftig aussieht, sich dann aber als Rohrkrepierer erweist, wenn man hineinbeißt, und er ist pelzig. Igitt! Esse ich zwar auch, weil alles andere Verschwendung von Lebensmitteln wäre, aber das Vergnügen ist erheblich geringer.

Jedenfalls fiel ich bereits als Kleinkind stets über derartige Konserven her.

Diese Vorliebe konnte bisweilen zu Problemen führen, zu wahren Horrorszenarien. Meine arme Schwester Stephanie hat aufgrund eines solchen Szenarios quasi ein Kindheitstrauma erlitten. Ich allerdings auch. Und das zu Weihnachten!

Es war Heiligabend in meinem vermutlich zweiten Lebensjahr. Wie wir alle wissen, war früher ja alles besser, und so gab es damals auch viel schönere Weihnachtssüßigkeiten als heute. Vor allem gab es ganz tolle Sachen aus Marzipan! Nicht nur die paar Standardfiguren, die ich heute so vorfinde, Schweine, Bananen, Kartoffeln, Möhren und Äpfel, sondern eine Vielzahl an Obst- und Gemüsesorten aus Marzipan, Rollmöpse aus Marzipan, ja, sogar belegte Brötchen aus Marzipan gab es! Die hatten es meiner Schwester, die Marzipan liebt, besonders angetan. Und so wünschte sie sich zu Weihnachten für ihren Kaufladen ein ganzes Sortiment an Marzipanfiguren.

Als endlich Bescherung war, prangten viele Geschenke auf dem großen Wohnzimmertisch. Doch Stephanie hatte nur Augen für die Marzipanfrüchte und -gemüse. Die hatte sie sich so sehr gewünscht! Leider jedoch sah auch ich als erstes das große Marzipansortiment, das ja gar nicht für mich bestimmt war, und darin ganz besonders ein Teil: eine Gurke!

Sicherlich hat meine Mutter im nächsten Moment bereut, auch eine Marzipangurke in das Konvolut aufzunehmen, denn schneller, als man von mir erwartet hatte, schoss ich auf den Tisch zu, dabei laut und begeistert: „Gocken!“ rufend. „Gurken“ konnte ich noch nicht richtig artikulieren, aber jeder wusste, was ich meinte. Und ehe irgendjemand eingreifen konnte, so überraschend war der Sturm auf die Marzipangurke gekommen, packte ich sie kindlich-grobmotorisch und biss hinein. Aber welche Ernüchterung! Statt knackiger Säure bestand dieser Gurken-Fake aus einer pappigen Masse, einer süßen, pappigen Masse obendrein!

Es geht die Sage, dass sich interessante Entwicklungsstufen in meinem Gesicht abzeichneten: Das Spektrum reichte von strahlender Begeisterung am einen bis zu heftiger Skepsis und größtmöglicher Irritation am anderen Ende. „Nee Gocken?“ fragte ich wohl mit maximaler Erschütterung in der Stimme, dabei zunächst ratlos die Marzipangurke und dann hilfesuchend meine Mutter anstarrend, während meine Schwester in großem Entsetzen und protestierend daneben stand. „Nee Gocken?“ wiederholte ich, was mit: „Was ist das denn für eine Scheiße – ist das etwa gar keine Gurke?“ oder:  „Wollt ihr mich verarschen?“ zu übersetzen ist.

Meine Mutter konnte leider ihren erzieherischen Pflichten in dem Moment nur unzureichend gerecht werden, da sie lachen musste und sich kaum noch halten konnte. Leider das völlig falsche Signal, wenn auch verständlich (ich hätte an ihrer Stelle leider auch garantiert lachen müssen). Denn nun stürzte ich mich blitzschnell – ich vermute, zu Testzwecken – auch noch auf die anderen Marzipanfiguren, einen kleinen Blumenkohl, eine Banane und so fort, die ich jeweils anbiss und dann empört und frustriert fallenließ. Zum Glück griff meine Mutter dann sehr energisch ein, und zumindest zwei oder drei Figuren blieben intakt. Dafür aber heulten zwei Kinder, und das am Heiligen Abend. 😉 Stephanie, weil ihr schönes Geschenk zerstört war, ich, weil nichts so schmeckte, wie es aussah. Fröhliche Weihnachten! Zwar hat meine Schwester dann Ersatz bekommen, aber die eigentliche Freude war zerstört, und das durch mich. Zur Strafe hat sie mir diese Geschichte auch noch Jahre, Jahrzehnte später immer wieder aufs Butterbrot geschmiert, so dass ich vor einigen Jahren dazu übergegangen bin, ihr zu jedem Geburtstag im Oktober und zu Weihnachten neben dem Hauptgeschenk diverse Marzipanfiguren zu schenken, stets von einem ironischen Augenzwinkern begleitet. Versteht ihr, warum meine Schwester darauf bisweilen etwas grummelig reagiert? Es sind doch gewissermaßen Reparationsleistungen, und ich möchte mir nicht nachsagen lassen, ich zahlte nicht für durch mich entstandenen Schaden … 😉 (Wenn mir auch klar ist, dass der damalige Schaden kaum wiedergutzumachen ist. Eigentlich gar nicht.)

Meine Vorliebe für Saures hat allerdings auch meinem Ex Richie direkt zu Beginn unserer Beziehung einmal den Angstschweiß auf die Stirn getrieben und unheilvolle Minuten beschert. Wir waren übers Wochenende in seinem Elternhaus in Neuss, weil dort am Samstag eine Party stattfand. Richies Mutter weilte in Bayern, wo ihr Lebensgefährte lebte, weswegen sie viel Zeit dort verbrachte, und wir hatten das große Haus für uns allein. Am Freitagabend wollten wir uns etwas zu essen machen, und so gingen wir in den Vorratskeller, da der Kühlschrank ja so gut wie leer war. In einem der Regale entdeckte ich ein Glas „Tomatenpaprika“, eingelegte Paprika. Genial! Und so fragte ich Richie, ob wir das Glas öffnen könnten. „Ja, klar, nimm dir, was du gern essen möchtest,“, antwortete er. Und mit diversen Dingen und zwei Flaschen Bier saßen wir dann vor dem Fernseher, weil wir uns eine Serie ansehen wollten. Ich öffnete das Paprikaglas, fragte Richie, ob er auch etwas von dessen Inhalt wolle, aber er verneinte, das sei nicht so sein Ding. Ich konnte also das ganze Glas leermachen – sehr schön. Aber da meinte Richie: „Du kannst doch nicht immer wieder mit der Gabel da hineingehen – das wird doch schlecht, wenn wir es wieder zumachen und in den Kühlschrank stellen!“ – „Wie: das wird schlecht? Wieso sollte das schlecht werden?“ fragte ich. Der Ahnungslose! Als würde ich auch nur ein Fitzelchen übrig lassen! 😉 Das sagte ich ihm dann auch, und da meinte er noch: „Dann ist es ja gut.“

Einige Minuten vergingen, in denen ich es bereits hinter Richies Stirn arbeiten sah, zumal er mehrfach irritiert zu mir herüberblickte, als ich gerade den Rest Paprika aus dem großen Glas verspeiste und mein Bedauern kundtat, dass es nun schon leer sei. Aber zunächst sagte er nichts.

Bis ich fragte, ob vielleicht auch noch saure Gurken im Vorratskeller wären. Da sah er mich maximal aufgescheucht an und meinte: „Ääh, wieso jetzt auch noch saure Gurken? Das ist doch nicht normal. Du bist doch wohl nicht etwa schwanger?“ Seine Stimme zitterte, und ich habe nie wieder einen derart panischen Gesichtsausdruck bei ihm gesehen. 😉

Ich zögerte etwas mit der Antwort, zog meine Augenbrauen hoch, seufzte und gab mir Mühe, selber etwas ratlos auszusehen. Ich gebe zu, ich bin manchmal etwas gemein. 😉 Richie rief panisch: „Aber wir sind doch erst seit einem Monat zusammen!“ – „Ja, und? Meinst du nicht, dass vier Wochen dazu völlig ausreichen?“ – „Was meinst du damit? Du willst doch jetzt wohl nicht wirklich sagen …“ Seine Stimme brach, und da platzte ich dann heraus, weil ich nicht mehr an mich halten konnte, und ich lachte laut und beruhigte ihn: „Nein, keine Sorge. Das ist bei mir normal, und ich möchte wetten, sollte ich mal schwanger sein, esse ich sicher dauernd Pudding oder so einen süßen Mist, was sonst nicht zu meinen Vorlieben zählt. Keine Angst!“

Das hat ihn dann beruhigt, und er meinte, er habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der ein großes Glas eingelegten Paprikas mal eben leeren und dann noch nach sauren Gurken verlangen würde. Dennoch hat er mich im Wiederholungsfall doch immer ein bisschen verunsichert von der Seite angesehen – so ganz schien er dem Braten nicht zu trauen.

In jedem Falle verhält es sich bei mir so: Wenn ihr mir eine Freude machen wollt, schenkt mir keine Pralinen oder sonstige Süßigkeiten. Eine echte Freude macht ihr mir eher mit einem Glas eingelegten Herings oder sauer eingelegten Gemüsen. Und mein bester Freund Fridolin und seine Frau haben mir mal eine riesige Freude gemacht, indem sie mir ein Päckchen schickten, in dem neben anderen Sachen auch ein Glas selbstgemachten Ketchups enthalten war. Kein normaler Ketchup nur aus Tomaten, sondern Ananas-Ketchup. Der war absolut klasse, und ich habe mich riesig gefreut. Ebenso über die Chili-Gurken. Fridolin kennt mich halt schon seit vielen Jahren. 😉

Meine Weihnachts-Marzipanfiguren-Testserie hatte übrigens zur Folge, dass ich lange Zeit Marzipan verabscheute. Erst langsam hat sich diese Abneigung gelegt, und heute bin ich ein erklärter Marzipan-Fan. Nur nicht so oft, weil ich lieber Herzhaftes esse. Ihr seht: Auch Kindheitstraumata kann man überwinden. 😉

Und über meine Senfsucht schreibe ich ein anderes Mal. 😉

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