Hintergrundrauschen

Neulich telefonierte ich mit meiner Mutter. Wir tun das öfter, meistens aber nicht so lange wie an jenem Mittwoch, als wir fast zwei Stunden sprachen, und das ganz ohne zu streiten. 😉

Ich liebe meine Mutter sehr, und wir sind mentalitätstechnisch ziemlich dicht beieinander, was bedeutet: nicht mit übermäßig viel Geduld gesegnet, sarkastisch bis zur Bruchlandung, direkt, dass es direkter nicht geht, Ecken und Kanten, wohin man blickt. Daher kriegen wir einander auch bisweilen „anne Köppe“. Aber beide sehr sensibel und liebevoll – das kann man doch aber nicht unbedingt immer so zeigen. 😉 Muttern hat mir – unter anderem – eine recht ausgeprägte Ordnungsliebe und ein unschlagbares und unbestechliches Verhandlungsgeschick voraus, ich ihr sicherlich ein gewisses Talent, anderen Leuten – und das ausnahmsweise mit viel Geduld – etwas beizubringen, und das durchaus erfolgreich. Ansonsten beide – wie mein Ex Richie das immer nannte – total „straight“. Dabei sind wir doch beide recht kompromissfähig, trotz aller „straightness“. Das war auch immer unerlässlich.

Meine Schwester, Stephanie, meinte einmal in meiner Anwesenheit auf die Frage eines Freundes, wie sie ihre Familie definieren würde: „Meine Familie besteht aus zwei unermüdlichen Optimisten und zwei sarkastischen Melancholikern.“ Ich grinste. Der Freund fragte: „Und wer ist wer?“ Ich antwortete, noch bevor Stephanie den Mund öffnen konnte: „Manchmal wird man zum sarkastischen Melancholiker, wenn man es mit zwei unermüdlichen Optimisten zu tun hat.“ – „Aha!“ rief der Freund, ein echter Blitzmerker: „Du bist also einer der sarkastischen Melancholiker! Wer ist der zweite? Stephanie ist es nicht! Lass mich raten: euer Vater!“ Ich lachte nur und meinte: „Gewiss nicht.“ – „Also die Mutter.“ – „Nun, bleibt bei einer vierköpfigen Familie sonst noch jemand übrig?“ – „Äääh, nee.“ – „Also.“ – „Und warum seid ihr so?“ – „Unter anderem sicher deshalb, weil es bisweilen anstrengend ist, mit zwei unermüdlichen und unheilbaren Optimisten zu tun zu haben.“ – „Du bist aber negativ.“ – „Nein. Ich bin realistisch.“

Nichts gegen unermüdliche Optimisten. Die sind nett. Ich mag sie. Ich verstehe sie nur nicht immer. Eigentlich nie so richtig. Ich bin keine permanente Schwarzseherin, eher vorsichtig. Überbordende Euphorie und gesteigerter Optimismus erzeugen bei mir Skepsis. Sehen die denn gar nicht, was um sie herum alles passiert? Nein, ich bin keine Verschwörungstheoretikerin. VTer finde ich lächerlich. Ich bin einfach nur vorsichtig und zurückhaltend, wenn ich Dinge zunächst einfach beobachte. Wenn ich dann Ungeheuerliches entdecke, kann ich auch drastisch werden. Aber erst einmal genau ansehen. Mit der Einstellung kann man kein echter Optimist sein, ich gebe es zu. 😉

Meine Mutter ist ähnlich. Sieht sich Dinge genau an, bevor sie etwas sagt. Wenn die Dinge ihr – und das zu Recht – missfallen, kann auch sie drastisch werden – das hat sie wohl an mich vererbt. Da dann auch kompromisslos. Eigentlich sind meine Mutter und ich ziemlich cool, da wir uns in unser beider Leben trotz unserer bisweilen drastischen Art auf so viele Kompromisse eingelassen haben. 😉 Manchmal, ja, da bricht es natürlich aus uns heraus … 😉

Denn als ich am vergangenen Mittwoch mit Mama telefonierte – ein schönes Telefonat, übrigens -, rief sie plötzlich: „Nein! Was macht der denn da draußen?“ – „Wer?“ – „Dein Vater!“ – „Wieso? Was macht er denn?“ – „Er gräbt gerade den falschen Strauch aus! Warte, ich komme gleich wieder!“

Im Hintergrund hörte ich, wie Mama Papa erklärte, er grabe den falschen Strauch aus. Der daneben sei gemeint gewesen. Ehrlich gestanden, ich war froh, dass ich nur Zaungast war. Sie klang ziemlich energisch. Nicht böse, aber energisch. 😉

Sie kam zurück, und ich meinte: „Der arme Papa. Da gräbt er schon den Strauch aus, und du schimpfst mit ihm!“ – „Ali! Ich habe ihm mindestens dreimal gesagt, was zu tun sei! Und er sagt: ‚Ja, alles klar‘ – und dann so etwas! Er hört gar nicht zu!“

Ich lachte, ging aber in mich. Sie hatte recht. Er hört wirklich nicht zu.

Früher dachte ich immer, es läge daran, dass er stets so beschäftigt sei, überarbeitet, mit den Gedanken woanders. Es hat ganz, ganz lange gedauert, und mir ist das noch gar nicht so lange klar: Er hört gar nicht hin! Keine Ahnung, ob das Absicht ist. Ich glaube das nicht einmal. Aber das Ergebnis ist dasselbe: Man erzählt etwas, und dann stellt sich heraus, es kam gar nicht an.

Richtig bitter ist das, wenn es um eine Sache geht, die einem selber fast das Herz bricht. Man geht hin, erzählt, was einem schwerfällt, und er sitzt da, hört sich alles an. Stellt man eine entsprechende Rückfrage, stellt man – nicht immer, aber manchmal – fest, dass er offenbar irgendwann abgeschweift ist. Ich weiß, er macht es nicht mit Absicht, aber unschön ist es doch.

Und seitdem ich das weiß, ziehe ich den Hut vor meiner Mutter, verstehe sie auch besser. 🙂

Sie meinte am Telefon nur: „Es ist halt alles nicht so einfach, Ali.“ – „Mit uns auch nicht, Mama.“ – „Weiß ich, Ali, habe ich alles schon einkalkuliert.“ – „Wir sind manchmal sehr direkt.“ – „Aber zumindest weiß man, woran man mit uns ist.“ – „Auch nicht immer.“ – „Aber nicht ganz so.“ – „Das stimmt.“

Ich meinte dann, manchmal beneidete ich Papa um seine Gabe. Einfach nichts mitbekommen. Ich höre leider immer alles. Ich höre sogar manchmal das Gras wachsen. Und dann meinte ich zu meiner Mutter: „Mama, wahrscheinlich ist all das, was Stephanie, du und ich zu Papa sagen, für ihn so eine Art Hintergrundrauschen. Wie so ein Klangteppich. Man hört ein Rauschen, nimmt aber nicht wahr, was da im Einzelnen gesagt wird.“ – „Hintergrundrauschen. Ja. Super. Kein Wunder, wenn man aneinander vorbeiredet und dann falsche Sträucher ausgegraben werden!“ – „Wenn es nur das ist! Papa besteht heute noch darauf, dass ich doch dankbar sei, dass ich Klavierunterricht hatte, obwohl ich ihm immer wieder sagte, dass ich den gar nicht wolle. Wenn Instrument, dann Querflöte!“ – „Das hat er wohl auch gar nicht gehört. Ich kann mich gut erinnern. Aber du liegst falsch: Was Stephanie sagt, hört er wohl besser.“ – „Wie meinst du das?“ – „Nun, wenn du anrufst und mit ihm sprichst, frage ich ihn danach öfter: ‚Was hat Ali denn erzählt?‘ Dann kommt oft so etwas wie: ‚Nun, sie erzählt ja bisweilen sehr viel – so im Einzelnen weiß ich das gar nicht mehr. Aber ich soll dich schön grüßen.‘“

Super! Ich zerfasere mir die Zunge, erzähle ihm Dinge, die auch ihn interessieren könnten, Dinge, die nicht ganz so alltäglich oder redundant sind, die mir viel bedeuten oder gar wehtun – und dann kommt dabei heraus: „Aber ich soll dich schön grüßen“! Das schmerzt schon ein wenig. Zumal er immer ganz interessiert: „Ah, ja“ oder Vergleichbares sagt, so am Telefon. Ich äußerte dies gegenüber meiner Mutter. Mama meinte: „Tröste dich – bei mir ist es genauso. Ich bin mir sicher, er meint es nicht böse. Ich glaube, er versteht uns einfach nicht … Nein! Was macht er denn jetzt? Jetzt mäht er den Rasen! Dabei hatte ich gesagt, dass ich das morgen mache! Morgen, weil es heute schon zu spät sei! Aaah!“

Ich ziehe den Hut vor Mama. Ich weiß nicht, wie ich damit dauerhaft zurechtkäme. Als sie aus dem Garten zurückkam und der Motor des Rasenmähers verstummt war, meinte ich zu ihr: „Mama, ich verstehe dich. Ich denke manchmal, wir beide könnten direkt danebenstehen, während Papa dich und mich beschreibt, und wir würden uns fragen, von welch uns fremden Personen er da gerade spreche, denn er würde uns so beschreiben, wie wir gar nicht sind, er uns aber offenbar sieht oder sehen will. Wir würden uns selber nicht wiedererkennen.“ – „Ich glaube das auch. Was deinem Vater fremd ist, versteht er gar nicht. Er ist halt sehr geradlinig. Stephanie ist ihm wesentlich näher – die beiden verstehen einander besser.“ – „He – wir sind auch geradlinig!“ – „Ja, aber anders.“

Ich stehe hier nun und frage mich: Ist mein Vater ein besonders eigenwilliges Wesen? Das würde mir noch einleuchten. Das Gegenteil dessen tun, wessen man beauftragt wurde. Das würde ich verstehen. Das ist aber eigentlich gar nicht die Art meines Vaters. Eher meine. Vielleicht nicht immer genau das Gegenteil, aber zumindest anders, als verlangt, wenn man Protest einlegen will. Das ist meine Art. Nicht die meines Vaters. Offenbar hört er wirklich nicht hin, wenn auch nicht mit Absicht. Aber er ist einer der liebsten Menschen, die ich kenne. 🙂

Beim nächsten Telefonat mit ihm werde ich einfach im Telegrammstil mit ihm sprechen, auf dass kein Hintergrundrauschen entstehe. 😉

Für Mama. Wir sind halt alle ziemlich unterschiedlich, und das ist auch gut so. 😉

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