Pas un coup de foudre

Heute früh bin ich um Viertel nach sechs aufgestanden, und das richtig fröhlich. Ich war – was zu dieser für mich persönlich frühen Stunde ungewöhnlich für mich ist – sehr gut gelaunt. Endlich einmal früher bei der Arbeit sein! Ich ging, ein fröhliches Liedchen trällernd, unter die Dusche, machte mich fertig, und mir gefiel sogar, was ich dann als Resultat im Spiegel sah. Das ist nicht jeden Tag so. Ich bin da aber auch extrem kritisch. 😉

Und beschwingt begab ich mich zur Straßenbahn- und Bushaltestelle. Was war das? Auf der Anzeige stand, die nächste Bahn werde in 13 Minuten kommen. Was für eine krumme Zahl! Die Bahnen fahren alle zehn Minuten – wenn man dem Plan Glauben schenken will. Und so stand ich eine halbe Stunde, bis der 98er Bus kam, den ich dann wutschnaubend nahm – die gute Laune weg. Naja, zumindest temporär, weil ich eiskalte Hände und Füße hatte, was ich gar nicht mag. Aber wer mag das schon?

Im Bus hörte ich die ansonsten in dieser Linie besonders lauten Gespräche über die neuesten Streiche der Enkelchen der Erzählenden nicht – allesamt Genies. Also: die Enkel. 😉 Nein, ich finde ja selber nett, wenn sich Omas und Opas ganz stolz über ihre Enkel austauschen. Nur: Ich glaube nicht so ganz, dass die alle ausnahmslos kleine Genies seien. 😉 Ich habe früher viel mit Kindern gearbeitet und damit auch mit den stolzen Eltern und bisweilen Großeltern. Die tendieren bisweilen etwas zu Übertreibungen. Nein, das ist zu negativ. Ich meine es nicht böse – meine Eltern waren ja wohl ähnlich, was meine Schwester und mich betraf, und hätte ich Kinder, wäre ich sicherlich nicht viel anders. Eltern und sonstige Anverwandte sehen die Gegebenheiten einfach per naturam eher subjektiv. 😉

Ich hörte die Gespräche nicht, da ich Musik hörte. Mir war heute nach französischer Musik, nach Zaz und ihrem Album „Paris“. Alles altbekannte Chansons verschiedener Interpreten, nur sehr jazzig interpretiert; die meisten Chansons sehr schwungvoll, und fast hätte ich mitgesungen. 😉 Zumindest bei den Chansons, die ich kannte. Erstaunt war ich, dass ich selbst bei den mir weniger bekannten Liedern die Texte sehr gut verstand, denn abgesehen von meinem letztjährigen Sommerurlaub habe ich fast nie Gelegenheit, meine französischen Sprachkenntnisse anzuwenden, die ich – Frau Vosskühler und Monsieur Faubourg sei Dank! – ab der neunten Klasse im Rahmen der dritten Fremdsprache nach Englisch und Latein und ab Jahrgangsstufe 11 sogar als Leistungskurs erworben habe.

Ich gebe zu, meine LK-Wahl war schon ein wenig gewagt: zwei Fremdsprachen, Englisch und Französisch – ich war die Einzige in meiner Jahrgangsstufe mit 116 Schülern, die so wahnsinnig gewesen war. (Ähnlich wahnsinnig wie die, die Mathe und Physik oder Mathe und Chemie oder Physik und Chemie gewählt hatten.) Und meine Mitschüler sahen mich auch immer so an, als wäre ich nicht ganz dicht, wenn ich meine Leistungskurs-Kombination erwähnte. 😉 (Ich muss gestehen, dass ich auch etwas Angst vor der eigenen Courage hatte, als nichts mehr an den Gegebenheiten zu ändern war. Was Sprache und Sprachen anbelangt, bin ich erschreckend genau, was ansonsten gar nicht zu meinem Wesen passt. 😉 )

Frau Vosskühler war immer sehr überzeugt von meinen Fähigkeiten gewesen, und ich beherrschte das Ganze wohl auch recht gut. Aber ich hatte gerade einmal zwei Jahre Kenntnisse in dieser Sprache, als es dann mit dem LK losging. Und Monsieur Faubourg war ein sehr strenger Muttersprachler! 😉 Meine Schwester Stephanie hatte auch einen LK Französisch bei ihm gehabt, und ich hörte sie immer mit den Zähnen knirschen, obwohl sie durchaus gute Noten hatte. Auch von anderen Eingeweihten hörte ich Schauerliches: „Der Typ honoriert nichts, ist arrogant. Außerdem ist er immer so sarkastisch. Speziell dann, wenn man Fehler macht.“ Ich steuerte munteren Zeiten entgegen. Aber als ich das hörte, war schon nichts mehr zu ändern.

Die erste Stunde im Franz-LK war schneller da, als mir lieb war, denn ich war inzwischen selber etwas nervös geworden. Und ich kannte mich ja: Schon damals war meine Fertigkeit, ins Klo zu greifen, recht ausgeprägt. Wir saßen, da der Franz-LK nicht sehr groß war – nur wenige aus der Jahrgangsstufe waren dem Wahnsinn anheimgefallen –, in einem netten Halbkreis vor dem Tisch unseres Lehrers, der die, die seit der siebten Klasse Französisch gehabt hatten, allesamt wiedererkannte. Klar, denen hatte er ja höchstselbst die Grundlagen eingehämmert. Plötzlich fragte er: „Wer ist Mademoiselle B.?“ Und er nannte meinen Namen. Ich hob meine Hand, und er sah mich an und meinte: „Sie sehen ja ganz anders aus als Stéphanie. Sie sind doch die `sœur cadette‘ von Stéphanie B., nicht wahr? La petite sœur, n’est-ce pas?“ Ich gab zu, schuldig und die kleine Schwester von „Stéphanie“ zu sein – eine Rolle, die ich schon immer geliebt hatte! -, und er sah mich an, als wolle er mir bis auf den Grund meiner schwarzen Seele blicken. Dann schüttelte er leicht den Kopf und meinte: „Gar keine Ähnlichkeit. Spannend.“ Und er brabbelte: „L’une a les yeux bleus et les cheveux châtains, l’autre a les yeux verts et les cheveux blonds.“ Ich war etwas sauer – was sollte das denn, und was hatten Haar- und Augenfarbe hier zu suchen? Und so meinte ich: „Ich hoffe aber doch, dass Sie mich nicht gleich aus dem Raum weisen, weil ich keine Ähnlichkeit mit meiner Schwester habe!“ Da sah er mich an, grinste und meinte zu sich selber: „In der Tat. Keine Ähnlichkeit.“ Ich war so schlau wie zuvor.

Die nächsten Wochen zeigten, dass in diesem Kurs wirklich gelernt wurde, obwohl unsere allererste Lektüre eigentlich nett war: „Le petit Nicolas“ – „Der kleine Nick“, ein nettes, harmloses Buch. Da dachte ich noch: „Was haben die denn alle für einen Aufriss gemacht? Das hier ist doch harmlos!“ Doch dann schwenkten wir um auf Eugène Ionesco, und Monsieur Faubourg entpuppte sich als wirklich sehr strenger Lehrer. Am liebsten quälte er uns mit den französischen Nasallauten, die seiner Meinung nach besonders schwer, das Schwerste des Schweren, seien. (Der Mann hat noch nie versucht, Niederländisch zu lernen und das Wort „uien“, „Zwiebeln“, authentisch auszusprechen … 😉 Aber wozu sollte er das auch tun, nachdem seiner Meinung nach Französisch die Königin der Sprachen sei … 😉 ) Und so saßen wir da in unserem trauten Halbkreis und mussten der Reihe nach: „fond“, „bon“, „Saint Germain“, „J’ai dix-sept ans“, „enfin“, „bien“, „un“, „En Besançon, on chante des chansons très souvent“ und weitere Repräsentanten der jeweiligen Nasale laut artikulieren.

Auch nervte ihn, den französischen Schöngeist, unsere deutsche Aussprache des Adverbs „naturellement“. „Ah! Sie sagen immer `natürlemo‘! Das ist so deutsch, das ist nicht gut! Es heißt `natürell(e)mo‘!“ (Natürlich mit dem entsprechenden Nasal im Auslaut … 😉 )

Immer mehr stellte sich heraus, dass das kein Leistungs-, sondern ein Hochleistungskurs war. Wir wurden – neben der literaturwissenschaftlichen Seite nebst Lektüren von und Diskussionen über Camus, Sartre, Zola, Molière, Voltaire, Montesquieu, Balzac und Konsorten – sprachlich geschliffen, als hätte Monsieur Faubourg bereits Erfahrung als Feldwebel gesammelt. Und immer sagte er mit leisem und sarkastischem Grinsen: „Es wird der Tag kommen, an dem Sie mir dankbar sein werden.“ Den Satz kannte ich. Und ich mochte ihn nicht. Den hatte mein Vater auch immer geäußert, wenn ich mich beschwerte, dass ich doch eigentlich nie Klavierunterricht hatte haben wollen … 😉 Nichts gegen ein Instrument, aber dann doch eines meiner Wahl, und das war nicht das Klavier, sondern die Querflöte. Die wurde mir in Aussicht gestellt, wenn ich immer fleißig Klavier üben würde – eine tolle Motivation, wenn man beachtet, dass ich eigentlich gar nicht Klavier spielen wollte … 😉

Da so vieles nervte, fing ich zu rebellieren an. Es begann leise, steigerte sich aber stetig. Auf dem Höhepunkt war die Rebellion, als wir die Zeit des Zweiten Weltkrieges thematisierten und Monsieur Faubourg dreist behauptete: „Toute la France était dans la Résistance!“ Ah, ja. Ich fragte mit frechem Ausdruck, was denn mit den Kollaborateuren gewesen sei. Da schwenkte er rasch auf ein anderes Thema um und war auch nicht auf das Ursprungsthema zurückzubringen. Das ärgerte mich, und ich fragte meinen Lehrer, der aus Lille, also dem äußersten Norden Frankreichs kam, ob er denn eigentlich wirklich Franzose und nicht vielmehr Belgier sei – die Grenzsituation sei da doch stets etwas heikel und unklar gewesen. Er sah mich erst ziemlich konsterniert an, grinste dann aber und nannte mich „une fille très méchante“; und er bemerkte, „Stéphanie“ hätte so etwas sicherlich nie gesagt. Ich gab zurück: „Ganz sicher nicht, aber ebenso sicher hätte sie sich Ähnliches gedacht, weil ihr wohl auch ziemlich auf die Nerven ging, wie einseitig patriotisch Sie sind! Ich frage mich ja schon manchmal, warum Sie in einem Land leben, das Sie offenbar gar nicht mögen, was Sie uns hier im Kurs dauernd vorbeten und uns dabei das Gefühl vermitteln, und das zum Teil sehr deutlich, dass wir Abkömmlinge eines erheblich schlechteren Systems seien. Warum leben Sie dann eigentlich hier?“ Da erklärte er, seine Frau sei Deutsche und wie er Lehrerin. Ich meinte: „Ah, jetzt ist alles klar.“ Er fragte: „Wie meinen Sie das?“ Ich gab zurück: „Ihre Frau ist doch sicherlich verbeamtet?“ – „Ja.“ – „Würden Sie beide in Frankreich leben, dem Land ewigen Sonnenscheins, auch in Lille, selbstverständlich, wären Sie beide Angestellte, und das wäre sicherlich nicht so attraktiv. Ich glaube, in Frankreich bekommen Lehrer nicht so viel Geld, oder? Hier sind nur Sie angestellt, und Ihre Frau ist Beamtin.“ Da sah er mich lange an – und fing dann zu grinsen an. Nach der Stunde bat er mich zu sich und meinte: „Sie rauben mir auch noch den letzten Nerv, Mademoiselle Ali! Vous êtes un clou de cerceuil d’une certaine manière. In gewisser Weise sind Sie ein Nagel zu meinem Sarg. Manchmal habe ich schon Bedenken, überhaupt etwas zu sagen, weil ich stets mit Ihrem Widerspruch rechne, weil sich erwiesen hat, dass ich unbedingt damit rechnen muss. Sie sind so ganz anders als Ihre Schwester. Aber das war mir schon in der allerersten Stunde klar. Sie hatten so etwas Aufmüpfiges im Blick. Und ich war auch schon vorgewarnt worden.“

Das interessierte mich. „Wer hat Sie vorgewarnt? Vor mir?“ – „Ja.“ – „Wer war das?“ – „Frau Vosskühler. Die hat sich immer beschwert, ich sei ihr zu sarkastisch und allzu patriotisch, obwohl wir einander gut verstehen. Und dann kam sie eines Tages an und meinte, nun würde ich ja bald meine Meisterin finden.“ – „Wie bitte?“ – „Ja, da hatte sie wohl erfahren, dass Sie in meinen Leistungskurs kommen. Und sie hat sich darüber sehr gefreut. Und in der ersten Stunde habe ich dann Ausschau nach jemandem gehalten, der wie Stéphanie aussieht. Ich hatte ja nicht damit gerechnet, dass Sie ganz anders aussehen. Und Sie sehen nicht nur ganz anders aus. Haben Sie wirklich dieselben Eltern?“ Ich versicherte ihm, dass dies so sei, und er schüttelte nur seinen Kopf und meinte: „Faszinierend.“

Und obwohl meine Sprüche nicht abrissen, wenn Monsieur Faubourg – und das tat er oft – Gelegenheit dazu bot, muss er mich wohl gemocht haben. Offenbar so sehr, dass er mehrfach rief, meine französische Aussprache sei so reizend, als sei ich „une vraie Parisienne“. Ich fand das immer übertrieben, aber er meinte, ich klänge in der Tat so reizend wie eine Pariserin, speziell dann, wenn ich „oui“ oder Vergleichbares sagte – das klänge so nett und authentisch. (Das änderte sich schlagartig, nachdem ich über Ostern zwei Wochen in Südfrankreich gewesen war, denn da kehrte ich zurück und klang wie ein Straßenjunge. Von reizendem „oui“ keine Spur mehr, so rotzte ich das allenthalben übliche „ouais“ in die Gegend. Monsieur Faubourg war entsetzt, aber ich meinte nur, er müsse sich auch mal entscheiden, was er wolle: Er selbst habe uns zu vielen Frankreichaufenthalten geraten, um die Sprache „ganz authentisch“ zu sprechen. Und genau das täte ich, denn kein Mensch würde so geschliffen-niedlich „oui“ sagen. Das müsse er als waschechter Muttersprachler aber doch wissen – oder ob er doch eher Südbelgier sei und kein Nordfranzose, was aber ja im Grunde aufs selbe herauskäme … 😉 ) Das zog bei ihm immer, und erneut brabbelte er „Vous êtes une fille très méchante!“ in seinen Schnäuzer …

Doch egal, was ich tat – Monsieur Faubourg mochte mich. Wir haben einander nach meinem Abi sogar mehrfach geschrieben, als ich bereits in Aachen studierte, und das, obwohl er meine Fächerauswahl bis auf eine Ausnahme nicht goutierte. Anglistik! Ihm wäre lieber gewesen, hätte ich Romanistik studiert, da die erste Sprache dabei Französisch war … 😉 Die Königin aller Sprachen. 😉

Daran musste ich heute denken, als ich Zaz hörte und sogar die Texte der mir unbekannten Chansons weitestgehend verstand. Ohne Monsieur Faubourgs Drill wäre mir das sicherlich nicht gelungen. Und noch immer beherrsche ich die französischen Nasale hervorragend, ganz zu schweigen vom französischen R, welches besonders guttural klingt, sehr hart.

Nur nach Frankreich wollte ich lange Zeit nicht reisen, bezeichnete mich sogar als „nicht frankophil“. Alles Monsieur Faubourgs Schuld. 😉 Bis letzten Sommer. Seitdem bin ich Frankreich-Fan. 😉

Und tatsächlich bin ich ein wenig dankbar gewesen, als ich im Urlaub bisweilen nach Worten rang, aber dafür die Höflichkeitsform beim Bestellen im Restaurant beherrschte. Merci, Monsieur Faubourg! Wenn Sie mich hätten sprechen hören, wären Sie sicherlich manchmal in Tränen ausgebrochen, aber ich bin mir sicher, bei der Höflichkeitsform hätten Sie wieder gelächelt, sich selber auf die Schulter geklopft und gesagt: „Wenigstens etwas hat Mademoiselle Ali behalten!“ 😉

Frankreich und mich verbindet keineswegs ein „coup de foudre“, Liebe auf den ersten Blick. Es ist eher Liebe auf den zweiten bis dritten Blick gewesen … 😉 Aber sowas ist meist nachhaltiger.

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