Meine Berufswünsche waren im Grunde schon recht ausgeprägt, als ich ein Kleinkind war, und immer aufs Soziale ausgerichtet. Von meinem dritten Lebensjahr an wollte ich Tierärztin werden. Eigentlich wäre das eine absolut geeignete Mischung für mich gewesen, denn ich habe nicht nur ein Faible für soziale Berufe, sondern bin überdies auch noch sehr tierlieb. Man redete es mir aber mehr oder minder subtil aus, und ich könnte mich heute noch ohrfeigen, dass ich selber irgendwann einknickte. Aber so kann es gehen, und es war durchaus gut gemeint, was ich durchaus auch verstanden habe. Das würde ich jedoch niemals so deutlich sagen, auch wenn ich es denke. 😉
Danach interessierte ich mich für Psychologie und Logopädie – und beides passt sicherlich auch gut zusammen. Logopädin für Kinder war lange Zeit mein Wunschberuf. Ging aber auch nicht. 😉
Meine Mutter meinte, ich solle auf Lehramt studieren. Aber das wollte ich nicht – ums Verrecken wollte ich das nicht. Sie erklärte, ich sei dann aber irgendwann verbeamtet, könne mir das Pferd, das ich mir von Kindesbeinen an immer gewünscht hatte, locker leisten, ein Haus, Kinder, Hunde, Katzen, ein schönes Auto, Reisen und, und, und …
Klang verlockend. Aber ich wollte ums Verrecken nicht Studienrätin oder gar Primarstufenlehrerin werden, und das Beamtensystem fand ich schon als Kind irgendwie ungerecht – obwohl ich selber davon profitierte. (Aber mein Vater ist ein Beamter, der seine Privilegien immer als solche wahrnahm und wirklich hart arbeitete.) Mein Motto seit jeher: „Sekt oder Selters. Ganz oder gar nicht.“ Und ich habe viele Lehrer in meiner Verwandtschaft. Das kann abschreckend wirken. Nichts gegen meine Familie und die Verwandten, aber manche von ihnen gebärdeten sich, als sei ihr Beruf der intellektuell anspruchsvollste der Welt – das ging mir auf die Nerven, und bei der Vorstellung, tagein, tagaus im Lehrerzimmer auf solche Leute zu treffen, die von der Schule an die Uni und dann an die Schule zurückgegangen waren, Herren in einer erschütternd realitätsfernen Welt, da sie diejenigen sind, die das Wissen für sich gepachtet zu haben glauben, nur mit Menschen zu tun haben, die noch weniger Erfahrung im Leben außerhalb der Schule haben (obwohl ich glaube, viele Schüler haben mehr davon als ihre Lehrer, aber ich werde boshaft … ;-)), graute es mir in etwa so wie jemandem, dem man mit fünfzig Jahren Verbannung droht.
Mein Vater erklärte mir, Zahnarzt sei ein herausfordernder Beruf. Mein Vater ist Professor für Elektrotechnik, und seine Erfahrung mit Zahnmedizin beschränkt sich darauf, dass er zahnmedizinischer Patient ist. Ich machte um des lieben Friedens willen den Medizinertest, den man damals noch machen musste, war in allen Disziplinen gut, bis auf zwei, in denen ich leider nicht ganz so gut war. Die Warteliste stand an …
Ich habe mich dann frech für Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaften eingeschrieben, in Aachen, auf Magister. Anglistik gesplittet in Sprachwissenschaft als Hauptfach und Literaturwissenschaft als erstes Nebenfach. Komparatistik als zweites Nebenfach. Im Studium nervten viele Lehrämtler, die zwar nicht so viele benotete Scheine wie die Magisteraspiranten machen mussten, aber stets über ihr „extrem anspruchsvolles“ Studium klagten – keiner hatte so viele schlimme Dinge zu tun wie sie. Meine Sympathie diesem Berufszweig gegenüber schrumpfte noch mehr, aber ich sah auch drei wunderbare Ausnahmen unter meinen Lehramtskommilitonen, mit denen ich öfter einen Kaffee trinken ging. Die beklagten sich selber über ihre weniger ernsthaft engagierten Kommilitonen. Für diese drei war ihre Studien- und Berufswahl eine echte Berufung, und die machten die Scheine, die sie eigentlich gar nicht benotet hätten machen müssen, durchaus benotet und mit einem erheblichen Mehraufwand an Arbeit – die Möglichkeit bestand damals. So machte ich vice versa auch einen benoteten Schein in Didaktik, den ich als M.A.-Aspirantin gar nicht hätte machen müssen, und ich nahm an mehreren Pädagogikveranstaltungen für Lehrämtler teil, bis es mir zu doof wurde – Ringelpiez mit Anfassen wäre sinnvoller gewesen. Ich bin keine Freundin von Stuhlkreisen und ab initio redundanten Diskussionen. Ehrlich gestanden, vertrete ich sogar die frevelhafte Ansicht, dass man zwar im Bereich Didaktik einige Techniken erlernen könne, in Pädagogik hingegen nicht. Entweder hat man ein Händchen dafür, oder man hat es eben nicht. Ich bin normalerweise auch keine Freundin einfacher oder Patentlösungen – hier mache ich eine Ausnahme. Und ich habe inzwischen etwa zwanzig Jahre Erfahrung als Dozentin, nachdem ich während meines Studiums bereits als Lehrkraft in einer privaten Förderschule, wie man das damals noch nennen durfte (bis man das, was zuvor als „Sonderschulen“ bekannt war, in „Förderschulen“ umbenannte – ungeachtet der Tatsache, dass auch der politisch korrekte neue Begriff sich alsbald abschleifen würde und ein neuer her müsse …), arbeitete.
Nach meinem Studium arbeitete ich als EU-Projektkoordinatorin an meiner Alma mater, wenn auch fachfremd in einem ingenieurwissenschaftlichen Bereich, wo ich mich sehr wohlfühlte, danach als technische Redakteurin, „Technical Writer“ in einer Firma, die Telekommunikations-Software produzierte, bis diese aufgrund exorbitant „guter“ Geschäftsführung Insolvenz anmelden musste. Ab 2008 dann als Dozentin im Bereich Fremdsprachen an der TU einer der Nachbarstädte.
Ich hatte mich Mitte September beworben und vorgestellt, mein erstes Seminar sollte Mitte Oktober beginnen. Ich hatte vier Wochen Zeit, ein brandneues Konzept zu erarbeiten, denn mein Seminar war ebenso brandneu – das hatte es vorher nicht gegeben. Ein fachsprachliches noch dazu. Ich gestehe, es gab zwei Abende innerhalb dieser vier Wochen, da ich weinend vor meinem Rechner saß, mir die Haare raufte und mich fragte, wie ich nur so irrsinnig hätte sein können – das Fach, in dem ich kurz darauf ein Seminar leiten sollte, mir inhaltlich völlig neu, die Fachsprache aufgebläht bis dorthinaus. Meine Abende waren mit Lesen angefüllt. Ich kann mich zum Glück immer sehr gut selber „auf den Topf setzen“, und so schaffte ich es auch, ein Konzept zu erstellen, das meine neue Chefin gut fand und mit der Fachsprache klarzukommen, als ich dann Mitte Oktober meine erste Doppelstunde leitete.
Ich war nervös wie tausend Mann! Ich war eigentlich immer schüchtern gewesen, Referate während meines Studiums hatten schon zuvor ihren Tribut gefordert – ich schlief vor Referaten eigentlich nie. Sprechen vor einer Gruppe Menschen, und sei sie noch so klein? Der blanke Horror! Meine Kommilitonen meinten hinterher immer, man habe mir meine Nervosität nie angemerkt. Ich selber fühlte mich grauenhaft.
Was soll ich sagen? Binnen kurzem mutierte ich zu dem, was wohl schon länger in mir geschlummert hatte, denn: Ich bin ganz offenkundig eine Rampensau! 😉 Ich stehe gern auf einem Podium, einer Bühne, ich rede gern, ich unterhalte gern. Aber immer im Sinne meiner Tätigkeit, und ich vergesse die Studis nicht, da die ja lernen müssen. Aber ein bisschen nette Showeinlage muss auch sein – dann lernt es sich leichter. Und ich kann gut improvisieren. Ganz ungeahnt. Einmal hatte ich die falschen Unterlagen eingepackt, was mir in der Bahn auffiel. Leichter Panikschub. Zum Umkehren zu wenig Zeit. Also musste ich irgendwie so durch, hatte nur mich und meine noch auszusprechenden Worte. Es war eine meiner besten Veranstaltungen, und die Studis klopften hinterher Beifall. Ich freute mich sehr. Ich bin nicht über Gebühr eitel, und für mich ist so eine nette Reaktion kein Selbstverständnis – es freute mich wirklich sehr, und das sagte ich ihnen auch. Einer der Studis rief: „Miss B. – we love you!“ Ich gestehe es: Da hatte ich ein bisschen „Pipi“ in den Augen stehen. 😉
Nicht alle Studis waren so nett. Als ich einmal einige Wochen vor Weihnachten wegen einer heftigen Bronchitis ausfiel und meinen Studis eine Mail mit dem Betreff: „Caution! Biohazard!“ schrieb, in der ich mein Bedauern kundtat, auszufallen, schrieb mir ein Studi zurück, er bedauere das keineswegs – so toll sei ich ja nun wirklich nicht. Ich musste heftig schlucken, hatten mich doch sonst nur nette Wünsche ereilt. Dann dachte ich nach, führte mir den Studi vor Augen. Griesgrämig hatte er bisher in jeder Stunde dagesessen, hatte maximal zynische Bemerkungen gemacht, nicht eine konstruktive. Ich beantwortete seine Mail gar nicht, im Gegensatz zu den anderen, die mir nett gute Besserung wünschten. Nach meiner Genesung ging ich in der ersten Stunde hin, bedankte mich noch einmal persönlich bei den netten Studis. Den Zyniker bat ich beiläufig zu einem kurzen Gespräch nach der Stunde. Da habe ich ihm dann verklickert, dass ich seine deutlichen Worte durchaus schätzte, aber etwas enttäuscht sei, dass er offenbar schon zu Anfang nicht hingehört hätte, denn ich hätte doch gesagt, dass, wann immer Grund zur Kritik gegeben sei, ein offenes Ohr meinerseits bestünde. Auch per Mail – das dann aber bitte höflich, wenn auch deutlich. Was es denn auszusetzen gebe. Da wurde er knallrot und meinte: „Ach, eigentlich nichts.“ – „Ja, nun haben Sie die Möglichkeit, mir zu sagen, was Ihnen fehle – nun nutzen Sie sie doch, bitte, auch!“ – „Nein, eigentlich ist alles okay …“ – „Dann lassen Sie doch bitte den verbalen Baseballschläger demnächst auch stecken, ja? Sie können mit mir ganz normal sprechen, und das habe ich von Anfang an klargemacht.“ Seitdem klappte es prima.
Ich habe es eigentlich immer gut geschafft, die völlig verschiedenen Studis in den bis zu 30 Personen starken, bisweilen aber auch größeren Gruppen unter einen Hut zu bringen, und meine Arbeit machte mir Spaß. Einzig Streber, die es vereinzelt gab, waren nicht so angenehm, denn sie brachten durchaus lebhafte Diskussion mit ihren besserwisserischen und haarspalterischen Anmerkungen bisweilen zum Stocken. Nicht zum Erliegen – das hätte ich nicht zugelassen. 😉
Im Laufe der Zeit bekam ich immer mehr Seminare, sowohl fach-, als auch allgemeinsprachliche. Einer meiner Lieblingskurse war bis zum Schluss: „English Skills: Listening and Speaking“ auf B2-Niveau mit Ziel C1. Da konnte man sich richtig austoben, war nicht an Grammatikübungen gebunden, sondern konnte tagesaktuelle Themen behandeln, dazu Videos vorführen und besprechen. Und die Studis mussten zum Bestehen des Scheins unter anderem ein Referat halten.
In einem dieser Kurse war Evita, Evi genannt. Evi war eine sehr sympathische junge Frau, hatte bereits ein Kind und saß nun hochschwanger in meinem Kurs. Bisweilen hatte ich Bedenken, sie könne in demselben niederkommen, so hochschwanger war sie, verpasste aber keine Stunde. 🙂 Irgendwann dann fehlte sie, und eine Kommilitonin berichtete, Evi habe zwischenzeitlich ihre zweite kleine Tochter bekommen, komme aber in der folgenden Woche wieder.
In der Woche darauf saß Evi tatsächlich wieder da. Aber nicht allein. Gut, das war nun nichts Ungewöhnliches, denn Evi war ja auch zuvor schon immer „zu zweit“ anwesend gewesen. 😉 Aber nun war die kleine Maja nicht mehr in Evis Bauch, sondern auf deren Arm. Ich war hingerissen! Ein winziges kleines Wesen, stets friedlich schlummernd, bisweilen im Schlaf vermeintlich grinsend – das Kind gefiel mir. Anders als manch andere Mutter, fragte Evi mich auch, ob ich die kleine Maja mal halten wolle. Ja, klar! So ein süßes, kleines Ding – das wollte ich gerne mal auf den Arm nehmen. Es lag da in meinem Arm, winzig und im Schlaf Grimassen schneidend, und ich meinte zu Evi: „Nehmen Sie sie schnell wieder, bevor ich mit ihr abhaue!“ Evi lachte und meinte: „Jetzt ist sie lieb – aber wenn sie schreit, würden Sie sie sicherlich gern wieder loswerden.“ Ich meinte: „Ich bin hart im Nehmen, das wissen Sie doch.“
In der Seminarveranstaltung zwei Wochen später war die kleine Maja dann gar nicht so still, schlief auch gar nicht so niedlich und friedlich wie ein Blümchen bei Nacht, sondern machte sich schon von Beginn der Stunde an durch temporär energisches Geknötter und Geheul bemerkbar. Ich fragte Evi: „Ach, herrje – was hat sie?“ – „Sie hat wohl Blähungen, Frau B.! Soll ich lieber gehen?“ Ich bin kinderfreundlich, und ich wollte Evi keineswegs eines bisweilen knötterigen Babys wegen des Raumes verweisen. „Nein, nein, Sie bleiben hier! Mir tut die Kleine nur leid – sie hat sicherlich schlimme Bauchschmerzen. Aber die wären zu Hause oder sonstwo sicherlich genauso schlimm. Sie bleiben auf jeden Fall hier.“
Ein Maschinenbau-Student sollte sein Referat halten, und es ging um etwas, das mich auch interessierte: neuartige Gussmaterialien in der Automobilbranche. Ich hatte an der RWTH Aachen im Institut für Gießereikunde gearbeitet, mich trotz meines fachfremden Studiums in die Materie weitestmöglich eingearbeitet, und mich interessierte das Thema des Referats daher wirklich.
Der Studi stellte sich vorn vor den Kurs, wo ich sonst stand, hob an, referierte auch etwa fünf Minuten, während ich in einer der vorderen Stuhlreihen saß, direkt vor Evi und Maja.
Plötzlich hörte ich hinter mir ein sehr heftiges und ebenso eindeutiges Geräusch, und dann passierte alles auf einmal: Unglaublicher Gestank machte sich breit, und Evi und eine Kommilitonin sprangen auf, Evi mit Maja auf dem Arm, und alle drei verließen im Laufschritt mit Majas Wickeltasche den Seminarraum …
Sekundenbruchteile herrschte Schweigen, bis ich mühsam meinte: „Würden Sie da hinten bitte sofort die Fenster öffnen?“ Die Worte kamen nur mühsam zustande, da ich ein pelziges Gefühl auf meiner Zunge hatte und meine Augen tränten. Unglaublich, was sich im Magen-Darm-Trakt eines so winzigen Wesens, wie Maja es war, zusammenbrauen konnte! 😉 Die Kleine war quasi „explodiert“, und was sie dabei abgesondert hatte, ist mit Worten nicht zu beschreiben. Das muss man selber miterlebt haben. Oder auch nicht. 😉
Mein Referent sah hilflos drein, nachdem er sich die Nase geputzt hatte und wieder etwas Luft in den Seminarraum gelangt war. Er meinte: „Naja, den Rest will jetzt sicher keiner mehr hören …“ Ich meinte energisch: „Martin, selbstverständlich wollen wir auch noch den Rest hören! Lassen Sie sich nicht abhalten! Sie halten Ihr Referat ganz normal bis zum Ende! Und es ist wirklich interessant – lassen Sie sich nicht verunsichern!“ Und mit diesen Worten wischte ich mir die letzten Tränen aus den Augen.
Und als Martins Referat gerade zu Ende ging, kamen auch Evi, Maggie und die kleine Maja zurück. Maja wirkte vergnügt, als sie uns da in den Stuhlreihen mehr hängen als sitzen sah. Sie war wieder ganz die Alte. 😉
Zwei Wochen später hielt Evi ihr Referat. Maja schlief völlig blähungsfrei und friedlich in ihrem Kinderwagen. Evi wirkte auch ganz normal, als sie referierte.
Als die Stunde vorbei war, verließen die Studis den Raum und wünschten mir eine schöne Woche. Auch Evi war weg, allerdings stand der Kinderwagen mit Maja noch immer da. Ich wartete. Und wartete. Evi kam gar nicht zurück, hatte ihr Kind mit mir alleingelassen.
Plötzlich drang klägliches Gewimmer aus dem Wagen – Maja war erwacht und vermisste ihre Mutter. Die kam und kam nicht zurück, und das klägliche Gewimmer steigerte sich zu anklagendem Geschrei. Ich ging zu Maja, die mit zornrotem Gesicht in ihrem Wagen lag und schrie. Ich bin immer wieder erstaunt, welch immense Lautäußerungen von solch kleinen Wesen ausgehen können! 😉
Kurz vor dem Platzen meiner Trommelfelle – und da Evi noch immer nicht aufgetaucht war – fasste ich mir ein Herz, griff in den Kinderwagen und holte die inzwischen vor Zorn fast violett angelaufene Maja heraus, nahm sie auf meinen Arm und redete babygerecht leise und mit weicher Stimme auf das kleine, schreiende Ding ein: „Ooch! Wer schreit denn da so? Die Mama kommt doch gleich wieder!“ Zumindest hoffte ich das. Aber von Evi weit und breit keine Spur. Ich wurde allmählich ungeduldig. Maja desgleichen, und als sie gerade eine kurze Pause einlegte, wohl, um Luft für eine noch lautere Schreiattacke zu holen, kam mir eine brillante Idee! Und so fing ich an, mit babygerechter, weicher Stimme mein eigenes Lieblings-Schlaflied aus meiner Kindheit zu singen: das „Wiegenlied“ von Johannes Brahms. „Guten Abend, gut‘ Nacht, mit Rosen bedacht …“ Ehrlich gestanden, erhoffte ich mir inzwischen keine allzu große Wirkung mehr, nachdem schon meine liebreizend-babygerechte, freundliche Ansprache nicht gefruchtet hatte …
Aber – was für ein Wunder! Kaum waren die ersten Töne meiner Kehle entronnen, herrschte atemlose Stille! Die kleine Maja starrte mich gläubig an, als ich intonierte: „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt!“ Und als ich die Phrase wiederholte: „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wie-hie-hie-der geweckt“, schien sie gar zu grinsen! 😉 (Nein, nicht was Ihr denkt – ich kann durchaus fehlerfrei singen! ;-))
Optimistisch stimmte ich die zweite Strophe an, mich dabei wiegenden Schrittes durch den Seminarraum bewegend, das grinsende Baby auf meinem Arm. „Guten Abend, gut‘ Nacht, / Vo-hon Englein bewa-hacht, / Die-hie zeigen i-him Traum / Di-hier Chri-hist-kindleins Baum. / Schlaf nun selig und süß, / Schau im Traum ’s Pa-ra-di-hies / Schlaf nun selig und süß, / Schau im Tra-ha-haum ’s Paradies.“
Die zweite Strophe war gerade beendet, als eine Stimme von der Tür her erklang: „Frau B.! Nein! Wer hätte das gedacht!“ Maja begann leise zu protestieren, und ich drehte mich um, hielt dabei einen Finger auf meinen Mund – das Kind war doch gerade eingelullt und still gewesen. Wer störte?
Es war eine Kollegin, die ganz entrückt und verzückt in den Raum kam. Sie meinte mit gedämpfter Stimme: „Herzlichen Glückwunsch, Frau B.! Das ist ja schön, dass Sie Ihr Baby mitbringen! Das ist ja noch ganz klein! Hat man Ihnen gar nicht angesehen!“ – „Äääh …“ – „Wie rührend das immer ist – kaum fängt die Mama zu singen an, ist das Kleine still! Das ist ein Zeichen für eine echte Bindung, Frau B.!“ – „Äääh!“ – „Toll, wie Sie das machen – ganz herzlichen Glückwunsch!“ Und noch bevor ich etwas erklären konnte, verschwand die Kollegin mit Tränen der Rührung in den Augen. Und ich bekam am selben Abend noch eine Mail von meiner Chefin. Man habe ja gar nicht gewusst … 😉 (Das kommt davon, wenn man als Lehrbeauftragte arbeitet und die eigene Chefin nur alle Jubeljahre bzw. -monate mal sieht! 😉 )
Evi habe ich dann die Leviten gelesen, als sie wiederkam. Sie hatte sich wohl – ich tippe auf eine nachgeburtliche hormonelle Missstimmung – eingebildet, ihr Referat sei Mist gewesen und auf der Damentoilette etwa eine halbe Stunde lang geweint, übrigens ohne jedweden echten Anlass. Sie war bestürzt und fing zu weinen an, als ich sagte, sie könne doch nicht einfach ihr Kind mit einer wildfremden Person alleinlassen, und so hatte ich dann auch noch Evi im Arm und musste trösten … Es gelang mir, ohne dass ich auch da noch singen musste, und zum Schluss meinte Evi: „Ich hätte Maja niemals mit einer wildfremden Person alleingelassen. Sie waren doch da, und Ihnen vertraue ich. Sie haben das ja auch ganz toll gemacht – danke, Frau B.!“
Das rührte mich dann wieder. 🙂
Und so lernte ich, dass ein Dozentenjob auch manchmal mit der Betreuung ganz kleiner Studenten zu tun hat. Manchmal muss man sogar singen … 😉
Die kleine Maja hat mich ein Sommersemester später dann noch einmal besucht. Da war Evi gar nicht mehr meine Studentin, und Maja konnte schon krabbeln. Evi hatte wohl dem Vorlesungsverzeichnis entnommen, wann ich wo meine Seminare leitete, und da kam sie nach Abschluss eines solchen zu Besuch. Im Schlepptau die kleine Maja. Ich freute mich sehr, als Evi meinte: „Frau B. – ich wollte Sie doch gerne einmal besuchen, nachdem ich mein Studium auf Eis gelegt habe. Sie habe ich in so schöner Erinnerung behalten. Ich hoffe, Sie freuen sich.“
Ich freute mich sehr. 🙂 Ich freute mich auch über die kleine Maja, die schon so groß war, dass sie krabbeln konnte. Evi sagte zu ihr: „Maja, sieh mal, das ist Frau B., bei der wir im Seminar waren. Du nur in einem, ich in mehreren. Frau B. hat dir mal ganz lieb etwas vorgesungen.“ Und da grinste die Kleine mich an und kam auf mich zugekrabbelt. Ich gebe zu, ich hatte sie auch freundlich angesprochen und dabei alberne Laute von mir gegeben. 😉 Bei mir angelangt, stand die Kleine wackelnd und schwankend auf, stützte sich an meinen Beinen ab und riss die kleinen Ärmchen hoch! Ich war gerührt – das kleine Ding schien mich zu mögen. 🙂 Und da nahm ich sie hoch, und sie drückte ihr Köpfchen an mich. Irgendwann wollte sie wieder hinunter, und als ich sie absetzte, erhob sie sich binnen kurzem auf ihre kleinen Füße und begann, schwankend und stets im Risiko, zu fallen, zu laufen. Evi war völlig erstarrt. Ich nicht. Mir war nicht klar, was das bedeutete, ich sah sie ja nach langer Zeit zum ersten Mal wieder, aber da meinte Evi: „Die ist noch nie gelaufen! Und jetzt, gerade da wir bei Ihnen sind, fängt sie damit an! Frau B. – das muss an Ihnen liegen!“ Ich glaubte das zwar nicht, war aber ebenso hingerissen. Da lief das süße, kleine Ding schon. Ich gebe allerdings zu, dass ich mich ein wenig geehrt fühlte, dass es just in meiner Anwesenheit damit begonnen hatte. 🙂 Und ich war fast so stolz wie seine Mama, dass es ein sehr eigenwilliges kleines Mädchen war. 🙂
Mir fehlt meine Dozententätigkeit sehr. Erfreulicherweise aber hat meine ehemalige Chefin sich an mich gewendet und angefragt, ob ich nicht ab dem nächsten Semester zumindest ein Seminar leiten könne. Ich glaube, das möchte ich. 🙂