Wann immer ich als Kind und Jugendliche in den Spiegel sah, tat ich dies mit einer gewissen Skepsis, während meine ältere Schwester Stephanie dasselbe ganz anders tat: Mit großer Geste posierte sie vor dem Spiegel, strahlte sich selber an, studierte diverse Posen und Gesichtsausdrücke ein. Ihr gefiel offenbar, was sie sah. Sie war seit jeher eher der strahlende Mittelpunkt. Trat ich vor den Spiegel, so geschah dies stets mit sehr kritischem Blick. Ich bin eindeutig das Kind meiner Mutter. 😉 Schon als Kleinkind war ich irritiert davon, dass der Rest meiner Familie erheblich dunklere Haare als ich hatte, und noch bevor ich wusste, wie meine Haarfarbe korrekt heißt, fragte ich insistierend: „Warum habe ich gelbe Haare und ihr nicht?“ Meine Mutter lacht heute noch über die „gelben“ Haare und meine damals in skeptische Falten gezogene Stirn. Als Dreijährige.
Sie erklärte mir damals, ich hätte keineswegs „gelbe“, sondern blonde Haare, und sie selber, wie auch mein Vater hätten als kleine Kinder hellblonde Haare gehabt. Ich konnte das kaum glauben, kannte ich meine Mutter doch nur in sehr dunklem Dunkelblond, das mir eher braun erschien, meinen Vater nur in Dunkelbrünett, was ich als Kind als „schwarz“ bezeichnete. Und ich hoffte viele Jahre darauf, auch dunkelbrünett zu werden. Ich hoffte vergebens, ich blieb blond. Die Farbwahrnehmung kleiner Kinder scheint irgendwie anders zu sein als die Erwachsener, denn ich war auch jahrelang absolut überzeugt davon, ich hätte blaue Augen. Da waren meine Augen schon lange grün, zwar mit blauem Anteil, aber nicht dominant. „Blaugrün“ steht heute in meinem Personalausweis.
Ich sah nur, was ich sehen wollte oder wahrnehmen konnte, damals als Kind. Da hatte ich gelbe Haare und blaue Augen – offenbar hatte ich schon immer ein Faible für Schweden, ein Land, das ich sehr liebe und dessen Nationalfarben Blau und Gelb sind. 😉
Glücklicherweise wusste ich damals noch nicht, was viele Jahre später nicht wenige Menschen in oder an mir sehen würden, was ich als völlig herkömmlich und für einen Menschen deutscher Staatsangehörigkeit ebenfalls durchaus nicht ungewöhnlich ansah.
Ein Teil meiner Vorfahren kommt „aus dem Osten“, wie das so gern genannt wird. Genauer: Aus einer Region, einem Dreiländereck damals, vor dem Zweiten Weltkrieg, dessen Bestandteile über die Zeit mal deutsch, mal polnisch, mal tschechisch waren. Ein politisches Pulverfass wohl. Und in der Tat habe ich unter anderem auch slawische Vorfahren, polnische wie tschechische. Meinem Namen merkt man das nicht an. Und ich machte mir auch nie Gedanken darüber.
Bis ich eines Tages in Aachen bei einem Gang in die Stadt mal von einer älteren Dame, die den „Wachtturm“ anpries, am Ärmel meiner Kunstpelzjacke festgehalten wurde und sie in einer slawischen Sprache auf mich einredete, als gäbe es kein Morgen! Ich starrte sie aus zweierlei Gründen irritiert an:
A) Ich verstand kein Wort. B) Ich war immer davon ausgegangen, dass Jehovas Zeugen nur passiv werben dürften. Und nun wurde mir der „Wachtturm“ vor meine Augen gedrängt und Worte an mich gerichtet, von denen ich nicht eines verstand. Dass es sich um eine slawische Sprache handelte, war mir klar. Mich rührte auch der Eifer der älteren Dame, die mir offenbar etwas Gutes tun wollte, und so blieb ich stehen und erklärte ihr auf Deutsch, dass ich leider kein Wort verstünde, dass mich ihr Eifer rühre, ich aber nicht interessiert sei und dass sie eigentlich Leute auch nicht aktiv ansprechen dürfe. Sie starrte mich mitsamt meiner Kunstpelzjacke an, als hätte ich ihr soeben verkündet, ich sei ein Marsianer, und dann meinte sie mit reizendem slawischen Akzent: „Chabe iiichch gedacht, du Ruuussiiin! Wie iiichch. Siehst du so aaauus!“ – „Wegen der Jacke?“ – „Aaauuch.“ Und dann nannte sie mich ein „gutes Mädchen“, strich mir über den Arm und ging, während ich wie vom Donner gerührt dastand.
„Sehe ich aus wie eine Russin?“ fragte ich meinen besten Freund Fridolin, als ich kurz darauf auf einen Kaffee bei ihm vorbeischneite. Er sah mich nur kurz an und meinte: „Für mich siehst du aus wie Ali. Mit Russinnen kenne ich mich nicht aus.“ Keine Hilfe, aber ich starrte einmal mehr kritisch in seinen Badezimmerspiegel – diesmal besonders kritisch.
Wenige Wochen später arbeitete ich in der Studentenkneipe, in der ich einige Zeit als Thekenfrau jobbte. Ein eher lebhafter Abend, und irgendwann kam ein Paar, das selber eine Kneipe betrieb und setzte sich an den Tresen. Ich bediente die beiden sehr schwungvoll und freundlich, und irgendwann meinte der männliche Teil, der in seiner Freizeit malte, ganz begeistert: „Ali, würdest du mir Modell sitzen?“ – „Ich? Wozu?“ – „Wegen deines Gesichts! Du hast etwas an dir, was sonst nur Asiatinnen und Slawinnen haben – das würde ich gern malen! Bei dir tippe ich eher auf slawische Vorfahren – du hast so etwas reizend und latent Melancholisches an dir!“ Reizend-melancholisch erklärte ich ihm, dass ich sein Ansinnen zwar durchaus schmeichelhaft fände, aber viel zu ungeduldig zum Modellsitzen wäre – da sei ich eher mediterran.
Allmählich irritierte mich das Ganze, zumal ich auch in der Stadt gar nicht so selten von Polen und Russen in ihrer Muttersprache angesprochen wurde, teils nicht ganz unaufdringlich. Immer häufiger sah ich zu Hause in den Spiegel und versuchte, herauszufinden, warum mir das immer wieder passierte. Ich sah nichts Besonderes – ich sah mein Gesicht und fand daran nichts Außergewöhnliches.
Dann fuhr ich eines Tages von Aachen nach Ratingen, wo Giacomo, mein damaliger Freund, lebte, und da passierte etwas, das ich nie vergessen habe. Ich musste in Düsseldorf am Hauptbahnhof umsteigen, und ich telefonierte gerade mit Fridolin, meinem besten Freund, als ich an dem Gleis ankam, an dem die S6 Richtung Ratingen abfahren sollte. Nur war sie noch nicht da – verspätet, wie so oft. Und ich an einem abgelegenen Gleis. Im Winter am späten Nachmittag, es dämmerte bereits. Wie gut, dass ich Fridolin am Ohr hatte, und wir alberten herum, als ein Mann, der eher wie eine ziemlich „schmierige“ Erscheinung auftrat, sich mir näherte, mich einfach ansprach, obwohl ich auf mein Handy deutete, ihm bedeutete, er störe. Er redete mich ungeachtet dessen einfach an und behauptete, mich aus irgendeinem „Club“ zu kennen. Wir hätten doch neulich Sekt miteinander getrunken und noch so viel anderes gemacht. Ich sei doch diese reizende Russin …
Mir stockte der Atem. Wie bitte? Was sollte das denn, bitte? Ich sehe aus wie eine ganz normale Frau, sicherlich nicht wie eine, die in einem „Club“ arbeitet! Russin, Deutsche, Inuit – scheißegal! Das verklickerte ich dem schmierigen Typen auch, aber der meinte nur, ich sei halt jetzt nicht so geschminkt. Ich sagte in mein Handy: „Fridolin, auch wenn ich gerade nicht mit dir spreche: Bleib bitte dran, denn es könnte sein, dass ich einen Zeugen brauche! Hast du mich gehört?“ – „Ich bleibe dran, Alichen, keine Sorge! Was ist denn da los?“ – „Kann ich jetzt nicht en détail erklären, ich habe offenbar ein Problem, bleib bitte dran!“ Denn der Typ war immer näher gekommen, aufdringlich, und er behauptete, ich sei Russin und in einem Düsseldorfer „Club“ tätig und zu Willen. Mein Name sei Olga, denn den habe er sich gemerkt, da „ich“ ihm gefallen hätte. Ich erklärte, ich sei Deutsche, und das seit meiner Geburt, mein Name nicht Olga. Er meinte nur: „Das sagen sie alle. Keine von euch ist Deutsche!“ – „Im Gegensatz zu Ihnen bin ich das sehr wohl!“ schrie ich den Kerl an, der eindeutig eher aus orientalischen Gefilden stammte. Als er mich dann auch noch anfasste und meinte, Russinnen seien ja recht leicht zu haben, knallte ich ihm meine Reisetasche mit gewichtigem Inhalt zwar nicht dahin, wo es sich gehört hätte, aber doch immerhin empfindlich gegen die Kniescheibe, und ich schrie sehr laut und durchdringend nach der Polizei. Da rannte der Typ wie ein Hase, und im Wegrennen beschimpfte er mich als „Russenschlampe“ und „Scheiß-Olga“. Darüber kann ich heute lachen, und ich muss speziell über „Scheiß-Olga“ lachen. 😉 Damals schrie ich hinter ihm her, er sei ein ekelhafter und schmieriger Typ und solle sich mal überlegen, dass die armen Russinnen, die er da im Club kennengelernt habe, sicherlich nicht freiwillig dort arbeiten würden, weswegen sie mir auch von Herzen leidtäten, aber das sei das Einzige, was mich mit ihnen verbinde!
Weniger lustig fand ich, dass auf meinem Bahnsteig durchaus noch andere Leute standen, die gesehen hatten, dass ich belästigt und bedrängt wurde, aber keiner eingriff, sondern alle nur gebannt starrten, was wohl als Nächstes passieren würde. Nun, sie hatten ihre Vorstellung bekommen. Irgendwann fiel mir auch Fridolin wieder ein, als ich ein durchdringendes Pfeifen aus meiner Jackentasche hörte, wohin ich mein Handy gesteckt hatte, als mir klar war, dass ich unter Umständen zwei freie Hände würde brauchen können, mich zu wehren: Er war drangeblieben, hatte aber wohl gemerkt, dass ich ihn vergessen hatte und versuchte, auf sich aufmerksam zu machen. Er meinte: „Ali, kann man dich eigentlich nirgendwohin allein gehen lassen? Was war das denn, bitte? Und wieso hast du nicht schon viel eher nach der Polizei geschrien? Aber Hut ab: Du kannst wirklich sehr laut und durchdringend schreien. Ich war erleichtert, als du es endlich getan hast! Ich war selber schon kurz davor, die Polizei anzurufen und zum Düsseldorfer Hauptbahnhof zu schicken, als ich hörte, was der Ekeltyp dir da alles sagte! Aber du kamst mir dann zuvor.“ Giacomo, bei dem ich dann kurz darauf eintraf, immer noch total empört, fand „Scheiß-Olga“ total amüsant. Er lachte sich halb schlapp und meinte, ich hätte aber wirklich etwas Slawisches an mir. Ich war stinkwütend und meinte, ob ihm nicht klar sei, dass ich Angst gehabt hätte. Er meinte nur, ich sei doch in der Lage gewesen, mich zu wehren. Na, super!
Danach passierte lange Zeit nichts, keiner fragte mich, ob ich Russin, Polin, Sorbin, Tschechin oder Serbin sei, sprach mich gar in der zugehörigen Sprache an. Der Spuk schien vorbei. Bis es eines Abends, da wohnte und arbeitete ich auch schon in Ratingen und war erschöpft von der Arbeit heimgekehrt, an meiner Wohnungstür klingelte. Ich öffnete leicht genervt, und da stand ein jüngeres Paar und erklärte, sie kämen von einem Meinungsforschungsinstitut und hätten da mal ein paar Fragen. Sie wiesen sich sogar aus, aber ich winkte ab und meinte: „Sorry, aber ich bin gerade von der Arbeit gekommen und möchte einfach nur meine Ruhe. Bitte haben Sie Verständnis.“ Der junge Mann, der bei meinem Anblick zu strahlen begonnen hatte, meinte: „Kein Problem. Nur eine kurze Frage, Frau B.: Sind Sie zufälligerweise Polin?“ Ich verdrehte leicht meine Augen und meinte: „O nein, nicht schon wieder! Warum fragen Sie das? Das passiert mir nicht zum ersten Mal, und ich sollte schon so oft Russin oder Polin sein! Woran liegt das? Sagen Sie mir das bitte einfach. Wie kommen Sie darauf?“ Da lächelte der junge Mann und meinte: „Es ist Ihr Gesicht, Frau B.!“ – „Mein Gesicht?“ – „Ja. Sie sehen total slawisch aus. Die Wangenknochen – Sie haben ein klassisches slawisches Gesicht! Dazu noch die Augen – es wundert mich nicht, dass Sie öfter darauf angesprochen werden. Ich bin selber zur Hälfte Pole, und meine halbe weibliche Verwandtschaft in Polen sieht so aus wie Sie. Ich fand Sie gleich sympathisch, als Sie die Tür aufmachten.“ – „Danke. Dann weiß ich ja jetzt wenigstens Bescheid.“ Trotzdem bekamen die beiden kein Interview. 😉
In der letzten Zeit passierte es mir auf dem Rückweg von der TU der Nachbarstadt, an der ich als Dozentin arbeitete, zweimal, dass sich Männer neben mich setzten und ganz vertrauensvoll: „Вы говорите по-русски?“ fragten, „Wy gavarite pa-russki?“ Dabei griffen sie mir ebenso vertrauensvoll ans Knie bzw. legten mir den Arm um die Schulter. Ich verstand leider nur „russki“, aber ich habe gelernt, aus dem Textzusammenhang zu verstehen, und so erklärte ich auf Deutsch, dass ich kein Russisch verstünde, nachdem ich ihre Hände abgeschüttelt hatte, was in einem Falle auf komplettes Unverständnis stieß. Er beharrte darauf, dass ich doch eindeutig so aussähe! Ich stand lieber auf und setzte mich woanders hin. Es ist bisweilen etwas lästig, und immer noch sehe ich mich selber, wenn ich in den Spiegel blicke, verstehe die Reaktionen mancher Slawen wirklich nicht, die glauben, ich sei ebenfalls Polin, Russin wie sie selber.
Ein nettes Erlebnis hatte ich aber auch. Im Sommersemester 2012 hatte ich mein erstes allgemeinsprachliches Englischseminar neben den fachsprachlichen an der TU der Nachbarstadt zu leiten. Meine Chefin hatte mir eine Mail geschickt, dass eine Studentin erst zur dritten Veranstaltung kommen könne, sich aber ordnungsgemäß abgemeldet habe – ich solle sie nicht wie andere Zuspätkommer wegschicken. Sie leitete mir die Mail der Studentin weiter. Die Studentin hieß Jelena und schrieb bereits in ihrer Entschuldigungsmail, sie sei Russin und spreche sehr schlecht englisch.
In der dritten Stunde betrat ich wie üblich meinen Seminarraum, begrüßte die Studis und sah mich um: Da war ein mir unbekanntes Gesicht, eine ältere Studentin schon, die etwas besorgt dreinblickte. Ich beschloss, sie nach der Stunde zu mir zu bitten. Sie kam dann auch, und noch ehe ich zu sprechen beginnen konnte, meinte sie: „Frraaauu Bä. – darrf iichch Sie ätwaas frragen?“ – „Ja, sicher – fragen Sie nur, Jelena.“ – „Kaann es sain, daass Sie chaben slawische Vorrfahrren?“ – „Ääh? Wieso?“ – „Chaben Sie deutsche Name, sähen aberr aaauus wie Slawin! Bewägen siichch aaauuch so!“ – „Ääh … Ja, in der Tat. Ich habe slawische Vorfahren. Polnische und tschechische. Woran haben Sie das gesehen?“ – „Sähe iichch glaaiichch. Iist Ihr Gesiichcht! Chabe iich gesähen an Knochen! Chabe iichch glaaiichch kaiine Angst mähr gechabt und frreue miichch jätzt auf Engliischkurrs.“ Na, also.
Seitdem habe ich die Waffen gestreckt. Als mich neulich ein Professor, selber polnischer Abstammung, ansprach, ich sei doch sicherlich auch polnischstämmig, grinste ich nur und streckte meinen rechten Daumen hoch. Was mir nie auffiel, scheint anderen Leuten, die etwas davon verstehen, sofort aufzufallen. Offenbar erzeuge ich bei denen Heimatgefühle. Das ist doch etwas Schönes. 😉