Heute war mal wieder einer jener Tage, die ganz harmlos beginnen, sich dann aber als komplett schräg entpuppen.
Ich hatte Janine, meiner Bürogenossin, schon gestern gesagt, dass ich heute später kommen würde. Ich musste zum Fotografen, um biometrische Passbilder machen zu lassen – Bilder, die ohnehin jegliche Ästhetik missen lassen. Und ich gehe in etwa so gern zum Fotografen, wie andere Leute sich einer Wurzelbehandlung beim Zahnarzt unterziehen. Ich lasse mich einfach nicht gern fotografieren – ich hasse das. Ich sehe auf gestellten Fotos generell irgendwie verstört, entstellt oder sonstwie merkwürdig aus. Auf manchen Fotos fehlt nur noch, dass ich ein Schild mit einer Registriernummer vor mich halte – das Verbrecherfoto wäre perfekt! Schlimmstenfalls erscheine ich mit geschlossenen Augen, weil ich mal wieder in dem Moment, da der Auslöser betätigt wurde, blinzeln musste. Ein Erbstück meiner Mutter. Ich kenne keinen Menschen, der beim Fotografen bei der eigentlich doch ganz alltäglichen Anfertigung von Passfotos so oft neu fotografiert werden musste, wie meine Mutter. Wahrscheinlich wurde just ihretwegen die Digitalfotografie erfunden. 😉 Und ich bin in ihre Fußstapfen getreten.
Sitze ich beim Fotografen auf dem Hocker, überfällt mich Unruhe – ich sitze auf dem Präsentierteller. Eine Kamera ist nicht nur zufällig, sondern mit voller Absicht auf mich gerichtet – der blanke Horror! Erstaunlich, denn ich habe gar kein Problem damit, vor großen Menschengruppen zu sprechen – ich musste einmal vor 200 Studenten sprechen, die völlig außer Rand und Band waren. Sie hörten mir alsbald ganz ruhig zu. Ich war nicht eine Sekunde nervös. Aber sobald eine Kamera dazukommt, bin ich ein Nervenbündel, fahre mir dauernd durch die Haare, blicke in die Gegend wie ein Paranoiker und habe dauernd meine Hände im Gesicht.
Ein mir gut bekannter Fotograf, unter anderem Industrie- und Werbefotograf, der mich einmal bat, als Handmodell zur Verfügung zu stehen, weil ich seiner Ansicht nach „so schöne, kleine, wohlproportionierte Hände“ mein eigen nenne, stellte fest, dass ich sogar bei diesen Aufnahmen, die doch nur meine Hände betrafen, zusammenzuckte, wenn er den Auslöser betätigte. Er fragte, woran das liege, und ich sagte, ich ließe mich nicht gern fotografieren. Ich sei mir meiner selbst zu bewusst. Daraufhin sagte er kurz: „Hier hilft nur eines!“ Und er machte Fotos von meinem Gesicht, nicht nur von meinen Händen. Es war furchtbar, zumindest zunächst. Aber Bernhard ließ nicht locker und meinte: „Du scheinst dir deiner selbst eben nicht bewusst zu sein! Sieh doch nur, wie schön du lächeln kannst! Und jetzt noch einmal mit Zähnen!“ Er schaffte es, wirklich schöne Fotos von mir zu machen – aber er lenkte mich auch ab, erzählte mir von Büchern, die er gelesen habe, von seinen Kindern, was die wieder angestellt hätten. Ich kannte beide Kinder, und ich lachte häufig. Wirklich schöne Fotos – leider hat er sie behalten, und ich habe vergessen, Abzüge zu bestellen. Ich war so froh, als die Sitzung beendet war! 😉
Kurz: Es bedarf eines Fotografen, der mich ablenkt. Das hat heute auch die Fotografin geschafft, die stinknormale Passfotos von mir machen musste. Biometrische eben auch noch, auf denen man aussieht, als wäre man auf direktem Wege der Verbrecherkartei entsprungen. Schlimm: Man muss frontal in die Kamera blicken, und ich habe doch eher ein slawisch-rundes Gesicht. Auch hatte ich letzte Nacht nicht gut geschlafen – Tränensäcke! Die Fotografin sprach nach meinen Bedenken beruhigend auf mich ein, und so sind die Fotos zwar für meine Begriffe erschreckend, aber doch besser geworden als die letzten dieser Art. Und ich hatte noch ein sehr nettes Gespräch mit der Fotografin, nach dem sie zu mir sagte: „Irgendwie muss jemand Sie mir als erste Kundin geschickt haben! Der Tag fing heute so mies für mich an – und dann kommt gleich zu Anfang eine Kundin wie Sie. Sie haben mir gerade den Tag gerettet! Können Sie nicht öfter kommen?“ Ich bedauerte, ich brauchte nicht so oft solche Fotos, aber ich wünschte ihr alles Gute.
Dann fuhr ich zur Arbeit. Meine Kollegin Janine rotierte bereits, und sie telefonierte gerade, als ich das Büro betrat, nachdem ich beim Aussteigen aus dem Bus mit dem „In-ear“-Headset meines Smartphones fast hängengeblieben wäre und der Busfahrer zu mir gemeint hatte: „Junge Frau, Vorsicht! Wenn Sie hier hängenbleiben, müssen Sie den ganzen Tag mit mir fahren!“ Und, nachdem er mich genauer betrachtet hatte, meinte: „Aber das wäre ja eine durchaus nette Aussicht!“ – „Ganz sicher!“ gab ich mit reizendem Strahlen zurück und stopfte mir den rechten Teil des „In-ear“-Headsets schnell ins rechte Ohr, nickte ihm freundlich zu und verließ den Bus.
Nachdem Janine aufgelegt hatte, wünschten wir einander einen guten Morgen, und dann legte sie los. Mein Chef sei krank, habe sich krankgemeldet. Ich müsse ihn bei einer routinemäßig stattfindenden Veranstaltung abmelden. Der Tag sei scheiße und sie bereits völlig „auf“ und wolle nach Hause. Und das um Schlag 10. Im Grunde ein stinknormaler Arbeitstag in unserem Büro. Zwei Kolleginnen, die sich über alles und jedes aufregen können – es liegt am Job, in dem viel zu oft wirkliche Ungeheuerlichkeiten geschehen.
Ich meldete meinen Chef ab und drehte mich dann zu Janine um: „Was ist sonst passiert?“ Janine sah mich an und meinte nur: „Komm, es ist gerade ruhig – lass uns eine rauchen gehen.“ Klar, warum nicht?
In der kurzen Pause erinnerte sie mich daran, dass meine Ex-Chefin ja nun, da mein Chef abwesend sei, die Vertretung übernehme. Das hatte ich erfolgreich verdrängt. Ich war so froh gewesen, als mein neuer Chef sein Amt antrat! 😉 Der hat mich auch noch nie wirklich enttäuscht.
„Sonst noch etwas Unangenehmes?“ fragte ich, indem ich mir die zweite Zigarette anzündete. „Nein, nichts Schlimmeres als das,“, bekam ich zur Antwort.
Der Tag nahm seinen Lauf und war derart absurd, wie ich morgens im Traum nicht geahnt hatte. Irgendwann bot ich Janine zur Abwechslung mal „etwas Gesundes“ an, das ich wohl selber aus „politisch korrekten“ Gründen und als Gegenstück zu unserer sonstigen Schokoladen-Weingummi-Keks-Diät gekauft hatte: getrocknete Ananasstücke, in der Art von Backpflaumen. Aaah, das schmeckte richtig gut, und im Bewusstsein, dass das gesünder sei als die oben genannte Diät, schmeckte es gleich noch besser, war auch nicht so süß, sondern eher säuerlich, und wer mich kennt, weiß, dass ich saure Dinge wirklich mag.
Nachdem ich kurz darauf zweimal in Eile zur Toilette geeiert war, nahmen wir Abstand von den gedörrten Ananasfragmenten. Die Dinger wirkten besser als Backpflaumen oder sonstige Abführmittel …
Als ich zum dritten Mal von der Toilette zurückkehrte, bot sich mir im Büro folgendes Szenario: Meine Ex-Chefin und Vertreterin meines jetzigen Chefs machte sich in dessen Büro wichtig, gab gerade Janine Anweisungen, die mir unglücklich entgegenblickte, als wollte sie sagen: „Ich kann nichts dafür!“ Ich lächelte freundlich, griff zur Tüte mit der Dörr-Ananas und ging auf meine Ex-Chefin zu, die sehr gern zugreift, wenn sie es selber nicht bezahlen muss, und meinte mit einer Stimme, die so liebreizend klang, als käme sie aus einer anderen Welt: „Frau de Groot – mögen Sie getrocknete Ananas? Ist total gesund – greifen Sie zu!“ Und sie griff zu! Sogar dreimal. Janine hatte bereits beim ersten Griff Frau de Groots den Raum verlassen müssen, während ich mit eisern liebreizendem Lächeln die Ananas des Grauens feilbot.
Danach wandte sich Frau de Groot zum Gehen, drohte aber einen weiteren Besuch in unserem Büro an. Wir haben sie danach nicht mehr gesehen. Sie hatte richtig viele Ananasstücke gegessen.
Nachdem noch weitere Absurditäten ihren Lauf genommen hatten, meinte Janine zu mir: „Wenn das so weitergeht, hänge ich mich auf!“ – „Häng dich neben mich,“, gab ich zurück und fragte, warum sie eigentlich den ganzen Tag schon so angenervt sei. Da meinte sie: „Der Tag fing schon richtig bescheiden an. Auf dem Weg zur Arbeit bin ich geblitzt worden! Und dann noch der ganze Rest!“
Ich grinste und meinte: „Wir haben noch mehr gemeinsam, als ich ohnehin bisher annahm.“ – „Wie meinst du das?“ – „Naja – ich habe heute Fotos machen lassen. Du offenbar auch. Und unser beider Foto sieht unvorteilhaft aus! Nur dürfte deins ein klein wenig teurer sein als meins.“
Da musste Janine lachen. Und das war dann doch ein netter Abschluss eines ansonsten völlig durchgeknallten Tages. 😉