Wir stimmen sicherlich alle darin überein, dass es gewisse gesellschaftliche Konventionen gibt, die sinnvoll sind und auch bestehen müssen, um ein reibungsloses und mehrheitlich friedliches Miteinander zu ermöglichen. Gut, es gibt immer Menschen, die ausscheren, weil sie gern und bevorzugt an das eigene Fortkommen denken, bisweilen sogar schlicht asozial sind, aber die werden sicherlich nie aussterben, und mit etwas Glück können sich die anderen auch weiterhin behaupten. Mir wäre zwar auch lieber, immer das tun zu können, was mir gerade in den Sinn kommt, und Anarchie ist sicherlich wahnsinnig bequem, aber ich bin ja nicht allein auf der Welt.
Es gibt allerdings auch ganz merkwürdige Konventionen, die irgendeinem abergläubisch-spießigen Geist entsprungen sein müssen. Oder gleich mehreren Geistern, wobei ich mich bisweilen frage, ob überhaupt Geist dahinterstecke. 😉
Heute, am achten Januar, wurde ich von einer Kollegin zurechtgewiesen, die ich dieses Jahr erstmalig sah. Ich hatte doch glatt die Stirn gehabt, ihr ein frohes Neues Jahr zu wünschen! Nun ist dies sicherlich ein freundlich gemeinter Wunsch gewesen, aber ich musste mich sogleich erhobenen Zeigefingers in gestrengem Tonfall von ihr belehren lassen, dass ich da ja wohl Ungeheuerliches begangen hätte! Ich war bass erstaunt. Was nur hatte ich falsch gemacht? Die Kollegin erklärte mir, dass laut Knigge nur in der ersten Woche des angebrochenen Jahres dieser Wunsch opportun sei. Ob mir dies noch nicht bekannt gewesen sei?
Ich staunte, zumal mir speziell bei dieser Kollegin noch nie aufgefallen war, dass sie überhaupt von der Existenz des Knigge bzw. Regelungen des höflichen Miteinanders wusste. Aber man lernt ja nie aus. Ich versprach, mich zu bessern und sah dann zu, schnell wegzukommen. Weg von jemandem, der derart spießig-kleinkariert argumentierte, dass man nur mutmaßen konnte, einer seiner Vorfahren sei der Erfinder des Gemeinen Jägerzauns, einem Symbol klassischen Spießertums, gewesen. Mir hat die Kollegin auch kein gutes Neues Jahr gewünscht. Ich fand das unhöflich, aber – wie man sieht – die Ansichten gehen da stark auseinander.
Dennoch fragte ich mich, was eigentlich an einem gut und freundlich gemeinten Wunsch so furchtbar falsch sein könne. Es ist ja nun nicht so gewesen, dass wir die letzte Septemberwoche schrieben. Da ein gutes Neues Jahr zu wünschen, wäre sicherlich zu Recht als Verarsche aufgefasst worden. Und – bitte – wer hat allen Ernstes den Knigge zu Hause stehen, nach dem er sich richtet, statt nach einem mehr oder minder gesunden Menschenverstand? (Gut, ich habe auch eine Kollegin, deren Lieblingsbuch der Duden ist, den sie aufs Peinlichste zitiert, und das nicht einmal in Zweifelsfällen, in denen er doch, wie er selber seit jeher behauptet, maßgeblich sei – im Grunde sollte ich mich nicht wundern.)
Nachdem ich dann noch zweimal auf diesen Hinweis stieß – erstaunlicherweise beriefen sich auch die anderen beiden Kollegen auf den Knigge -, beschloss ich, niemandem mehr alles Gute fürs frisch begonnene Jahr zu wünschen. Sollte mich irgendjemand mangelnder Höflichkeit bezichtigen, verweise ich an die drei Kollegen, die den Knigge offenbar mit Verve verinnerlicht haben, die auch gerne darauf hinweisen, dass man nicht mehr: „Gesundheit!“ sage, wenn jemand niest, sondern der Niesende sich vielmehr zu entschuldigen habe. Für einen Reflex, wohlgemerkt. Wie absurd ist das denn?
Ich empfinde das als albern und ungerecht: Immerhin ist der Niesende, wenn es sich um einen Schnupfen handelt, dessentwegen er niesen musste, doch schon geschädigt genug, denn er hat eine fiese Erkältung oder aber Heuschnupfen oder ein sonstiges Gebrechen. Soll er sich nun auch noch selber geißeln und kleinmachen, obwohl er doch ohnehin schon benachteiligt ist? Darf man denn seine Anteilnahme nicht mehr zeigen, indem man – oftmals in eher humorvoller Absicht – Gesundheit wünscht? Offenbar nicht, wenn man den Knigge zur Richtschnur macht. Gut, ich wäre sicherlich auch eher unbegeistert, würde man mir auf meinen schönen neuen Blazer im Biker-Style niesen – oder auch sonstwohin -, und da hielte auch ich es für ganz normal, wenn sich der Niesende entschuldigte, während mir angesichts des Schmodders auf meinem schönen neuen Blazer der Wunsch nach Gesundheit sicherlich in der Kehle steckenbliebe. (Ich vermute, der Knigge befiehlt in solchen Fällen auch, Ruhe zu bewahren und den Verursacher nicht sogleich mit einem zünftigen Schlag auf die Zwölf für sein Vergehen zu bestrafen und niederzustrecken oder ihn mit der Nase in die Bescherung zu drücken. 😉 Aber irgendwie verstehen sich manche Dinge doch von selbst, oder?)
Mir graut immer, wenn ich – bei besonders nebensächlichen Aspekten – den Satz höre: „Das macht man so.“ Oder: „Das tut man nicht!“ In Fällen, wenn es im Grunde nur eine Frage des persönlichen Geschmacks ist, was man wie macht. Weingläser nur am Stiel halten, okay – ist stilvoller. Aber im Grunde ist es doch jedem selber überlassen, wie er das macht. Ich halte Weingläser immer am Stiel, weil ich es lieber mag und es nicht ganz so grobmotorisch wirkt. Ein Weinglas ist kein Bierglas.
Ich bin einmal ganz böse auf- und reingefallen, als ich bei der Familie eines Freundes beim Mittagessen – es gab gebratene Gans, mit Hackfleischfüllung, was ich ungewöhnlich fand, da bei uns zu Hause Gänse immer mit Äpfeln gefüllt werden (eine Frage des persönlichen Geschmacks) – die Stirn hatte, das Tier mit Messer und Gabel zu essen! Ich mag es so lieber als mit den Händen, weil ich es hasse, dann mit fettigen Fingern das Besteck anfassen zu müssen, mit dem man ja die Beilagen isst. Man legte mir nahe, doch auch mit den Händen zu essen – wohlgemerkt: nicht aus irgendwelchen traditionellen Gründen -, denn das sei doch bequemer, und ich bedankte mich für das Angebot, sagte aber, ich täte das lieber mit dem Besteck, was ich auch begründete, und das durchaus freundlich und natürlich. Da machten sie blöde Bemerkungen, ich sei wohl ein Snob, und die Schwester meines Freundes, durchaus schon erwachsen, entblödete sich nicht, alles, auch die Beilagen mit den Fingern zu essen. Sogar die Erbsen. Dabei hatte ich es keineswegs arrogant begründet, und ich verstand nicht so ganz, wie man einen Gast derart maßregeln konnte, der doch angeblich König sei. Wahrscheinlich steht im Knigge aber, dass ich künftig gebratenes Geflügel mit den Händen essen müsse, wenn der Gastgeber es so befehle … 😉 (Zufälligerweise aber weiß ich sogar, dass man Geflügel mit den Händen essen darf – warum auch nicht? -, wenn am Tisch Fingerschalen mit Zitronenwasser oder feuchte Tücher, meist mit Zitronenduft, stehen. Steht im Knigge, wie mir bereits vor Jahrzehnten mal jemand erklärte. Diese Reinigungsvorrichtungen gab es bei der Familie meines Freundes jedoch nicht, und im Knigge stand zumindest damals wohl auch nicht, dass man gezwungen sei, das gebratene Tier mit den Händen zu essen, auch wenn diese Dinge vorhanden seien. 😉 )
Jemand anders entrüstete sich einmal, als ich Milch in meinen Tee – schwarzen – gab. „Das macht man nicht! Man kann doch Tee nicht mit Milch trinken!“ hieß es. Warum nicht? Millionen Engländer tun es, und dort gilt es keineswegs als ehrenrührig. Es war ein Assam, der ohnehin schon etwas kräftiger ist, zu stark aufgebrüht, und da erschien mir die Zugabe von Milch durchaus opportun. Aber offenbar hatte ich mal wieder gegen eine eherne und selbstgezimmerte Regel verstoßen. Es war dann auch meine einzige Tasse Tee, die ich mit meinem Gegenüber trank. Offenbar war der Gute derart dogmatisch, dass er schon halb durchdrehte, wenn jemand Tee anders trank als er. Nichts für mich. Wer wusste schon, wie der in weit gewichtigeren Dingen so sein würde … 😉
Man kann, man kann nicht, das tut man, das tut man nicht – furchtbar in solch sekundären Dingen. Da sträubt sich alles in mir, und am liebsten würde ich solchen Menschen nur ein zünftig-markiges: „Spießer!“ entgegenschnauben.
Mein Vater hat mich – da war ich 17 oder 18 Jahre alt – in der Stadt mal absichtlich übersehen, als ich ihm mit einer Zigarette in der Hand entgegenkam. Ja, hätte ich denn lieber im heimischen Wohnzimmer rauchen sollen – in einem Nichtraucherhaushalt? Statt froh zu sein, dass ich meinem schändlichen Tun an der frischen Luft nachging, erklärte er mir: „Das macht man nicht. Gerade bei Frauen sieht so etwas immer fragwürdig aus.“ Ich fand seine Ansicht damals fragwürdig, und – wenn ich ehrlich bin – ich finde das auch heute noch so, und ich hielt eine flammende Rede, dass Frauen lange vor meiner Zeit neben dem Wahlrecht hart dafür gekämpft hätten, rauchen zu dürfen – auch auf der Straße. Er grinste, meinte, hätte ich zur Zeit der Suffragettenbewegung gelebt, wäre ich sicherlich eine der Vorkämpferinnen gewesen und wahrscheinlich – in der damaligen Zeit nicht unüblich – zumindest für kurze Zeit im Knast gelandet. Immerhin – mein Vater und ich konnten so etwas immer mit Humor klären. Er sah es auch danach nicht gern, wenn er mich mal in der Stadt traf und ich rauchte, aber er sagte, wenn überhaupt, nur noch grinsend: „Finde ich ja nicht so gut, aber ich weiß: Frauen haben dafür gekämpft, sich auch in der Öffentlichkeit sukzessive umbringen zu dürfen.“ Ich grinste auch und meinte: „Siehst du, es geht doch.“
Ich vertrete die Ansicht, dass in Fragen persönlichen Geschmacks durchaus eigene Entscheidungen fern des Knigge getroffen werden dürfen, sofern niemand dabei verletzt wird. Und ein netter Wunsch zum Neuen Jahr tut niemandem weh, ist einfach nur nett gemeint. Ich freue mich immer – auch in der zweiten, dritten, vierten Woche nach Jahresbeginn, wenn ich den Wünschenden zuvor nicht gesehen habe. Aber das ist bei manchen Mitmenschen auch ganz streng geregelt, und ebenso streng belehren sie einen dann auch. Nichts für mich. Für mich gilt weitestgehend: Leben und leben lassen statt unnötig ein Korsett anzulegen. Es gibt schon genug Konventionen, die tatsächlich eingehalten werden sollten, weil ein gesellschaftliches Miteinander sonst nur schwer oder gar nicht möglich ist. Da sollte einfach die Goldene Regel oder der Kategorische Imperativ gelten.
Ansonsten: Habt Spaß, und ärgert einander nicht. Jedenfalls nicht zu sehr. 😉