Nun ist es ja so, dass man mit jedem Sekundenbruchteil älter wird. Durchaus normal und unvermeidlich – es sei denn, man verzweifelt ob dieser Tatsache so sehr, dass man sich, den Prozess unterbrechend, von einer Brücke stürzt, sich erhängt oder sonstwie spontan aus dem Leben befördert. Das ist nichts für mich, und doch ist es nicht immer schön, mitansehen zu müssen, wie Vertrautes schwindet, Dinge, die man von klein auf kannte.
Heute las ich in der Zeitung, dass die Kinderärztin, bei der ich als Kind und junge Jugendliche in Behandlung war, wann immer es nötig war, gestorben sei. Gut, die Zeiten liegen jetzt schon diverse Jahre zurück, aber irgendwie war es trotzdem doof, das zu lesen – wieder etwas Altvertrautes weg. Das Krankenhaus, in dem sie ihren Dienst tat, ist heute ein Hospiz.
Im Gegensatz zu anderen Kindern habe ich Frau Dr. K. immer gemocht, da sie ein sehr liebevoller, wenn auch energischer Mensch war. Offenbar genau richtig für mich, die mit klaren Ansagen am besten umgehen kann. Kein langes Herumgeeiere – das mag ich nicht.
Sie mochte Kinder, das lag auf der Hand, aber sie war nicht sentimental, kein „Oooch, du armes, kleines Schätzchen“-Typ. Sie hätte meines Erachtens auch mit Pferden oder anderen Tieren hervorragend umgehen können: liebevoll, aber bestimmt. Kein Gedanke daran, dieser Frau auf der Nase herumzutanzen, Schmeicheleien sinnlos. Eine waschechte Pragmatikerin und daher ideal für den Umgang mit Kindern und Tieren geeignet.
Untersuchungen und Behandlungen bei ihr waren in verschiedene Phasen aufgeteilt:
1. Die Begrüßungsphase: „Ach, die kleine Ali! Das ist ja nett! Was fehlt denn?“ Erläuterungen meiner Mutter folgten, dann der Befehl: „Oben herum freimachen!“ Oder da, wo das Problem war. 😉
2. Untersuchung, harmlos: Man wurde abgehorcht, abgeklopft und -getastet.
3. Doch dann kam es – das Unvermeidliche. Bei jedem Besuch dort, egal, weswegen man dort war: der Griff zum Holzspatel, um einen Blick in den Rachen zu werfen! Der Teil, bei dem man: „Aaah!“ sagen muss. Ehrlich gestanden, hätte sie mir lieber ein Dutzend Spritzen geben können, wäre ich nur um diesen Teil der Untersuchung herumgekommen … Klingt nicht nachvollziehbar, ich weiß, aber Frau Dr. K. war ein sehr gründlicher und handfester Mensch. Griff sie nach dem Holzspatel, brach einem bereits der kalte Schweiß aus. Warum?
Nun, sie hatte die Angewohnheit, diesen Spatel tiefer als alle anderen Ärzte, bei denen ich je in Behandlung war, in den Mundraum einzuführen – bis ans hinterletzte Ende der Zunge. Das hatte zur Folge, dass sie stets ans „Zäpfchen“ stieß, und was das bedeutet, weiß sicherlich jeder. Unglaublicher Brechreiz machte sich breit, man saß stets hemmungslos würgend da, wenn sie sich längst Muttern wieder zugewandt hatte oder etwas auf ihren Rezeptblock schrieb. Und man hatte stets den kalten Schweiß auf der Stirn und sonstwo …
Das Allerschlimmste: Wann immer sie zum Spatel griff und man sich schon mental vorbereitete, fiel ihr stets noch etwas ein, das sie dringend mit Muttern besprechen musste, und so sah es dann wie folgt aus:
Griff zum Spatel. Schweißausbruch beim Patienten. Frau Dr. K. kommt mitsamt Spatel näher. Leichte Panik beim Patienten. Frau Dr. K. fällt etwas ein, und sie dreht sich zu des Patienten Mutter um, spricht mit ihr. Dreht sich mitsamt Spatel wieder zurück zum Patienten. Patient fixiert angstvoll Spatel mit den Augen. Frau Dr. K. fällt einmal mehr etwas ein, und sie dreht sich zu Muttern zurück. Spatel dreht sich mit. Augen des Patienten kleben an Spatel, der sich erneut dreht, wieder hin zum Patienten. Doch da erneuter Einfall Frau Dr. K.s, den sie Muttern unbedingt mitteilen muss. Augen des Patienten inzwischen untertassengroß. Folgen Spatel in Frau Dr. K.s Hand wie die Augen eines Hundes, dem man mit einem Leckerchen vor dem Gesicht herumwedelt – hin und her und her und hin. 😉 Spatel bewegt sich inzwischen wie Taktstock eines Dirigenten in Frau Dr. K.s Hand, wird zur Bedrohung aus Sicht des Patienten, der inzwischen schon fast hyperventiliert, ungesehen von Frau Dr. K., die mit dem Rücken zum Patienten steht, weiterhin mit dem Spatel dirigierend. Hypnotische Wirkung setzt ein … Doch da! Da dreht sich Frau Dr. K. um, befiehlt: „Sag mal ‚Aaaah‘!“ Man öffnet den Mund wie in Trance, Widerspruch oder Verweigerung sinnlos, und sagt: „Aa… wurgs!“ Immerhin ist man aus der „Hypnose“ sofort wieder da, denn dieser Brechreiz würde fast Tote wiedererwecken … Während ich dies schreibe, spüre ich wie durch Zauberhand das Gefühl der recht harten Kanten diverser Holzspatel an meinem weichen Gaumen nebst Zäpfchen … 😉
Dennoch mochte ich Frau Dr. K. sehr, und das nicht nur aus dem Grunde heraus, dass der letzte Teil der Behandlung darin bestand, dass ich mich nicht nur wieder ankleidete oder – als ich noch kleiner war – wieder angekleidet wurde, der für Frau Dr. K. typische liebevoll-energische Griff in meinen Nacken erfolgte und ich leicht und liebevoll-energisch geschüttelt wurde, eine Geste der Zuneigung, sondern mir zwei Bonbons aus einer Bonbondose aussuchen durfte. Genau zwei. Nicht mehr. Ehrlich gestanden: Ich lebte als Kind bei Untersuchungen und Behandlungen bei Frau Dr. K. immer auf diesen Moment hin. Zwar nicht gut für die Zähne, aber eine gute Maßnahme. Man wusste, man würde mal wieder massiv leiden und würgen müssen, da Untersuchungen des Rachenraums unumgänglich waren – der jährlichen Inspektion des eigenen Autos in der Kfz-Werkstatt des Vertrauens oder Vertrages nicht unähnlich -, aber immerhin wurde dann ein Schmerzensgeld geboten (auch das ähnlich wie in der Autowerkstatt, in der mir stets ein Kaffee angeboten wird, den ich regelmäßig ablehne – die Rechnung, bitte! ;-)). Was machen Kinder heute, da ja Bonbons auch schon auf dem Index stehen – zumindest bei manchen Eltern? 😉
Trotz der bisweilen unangenehmen Maßnahmen hatte Frau Dr. K. immer einen Fan: mich. Möge sie in Frieden ruhen. 🙂
Eigentlich sollte dieser Beitrag heißen „Beim Doktor sagt man A“
Meine Kids lachen dann meist und strengen sich doll an um ohne Spatel klar zu kommen und wenn ist nach dem Lachen die Zunge entspannt und es geht schnell und unkompliziert
Übrigens habe ich eine Prinzessin Lilifee farbene Taschenlampe 🔦 sehr hell übrigens
Bei den Jungs entschuldige ich mich für die Farbe, die Mädels finden es cool
Übrigens klappt das auch Ü12 sogar Ü35
Nur wenn es wirklich um einen tiefen Einblick geht muss man die Zunge fest drücken
So sind halt die Tricks
Hoffe ich werde auch mal so beschrieben, wäre was Nettes als Adieu
Es gibt Doctores, da muss man bisweilen „Kuckuck“ sagen – das ist noch schlimmer, und seit meiner frühen Kindheit habe ich eine unglaubliche Aversion gegen HNO-Ärzte entwickelt, seit einer mir mal freundlich lächelnd auftrug, „Kuckuck“ zu sagen – es folgte: das Grauen. 😉 Als Kind war mir nicht klar, warum ich so etwas Albernes wie „Kuckuck“ sagen sollte – im Linguistikstudium ist es mir dann klar geworden. 😉 Da muss man sich ja direkt zu Beginn des Grundstudiums profundere Kenntnis sämtlicher Artikulationsinstrumente, Sprechwerkzeuge aneignen, so dass ich mich in dieser Hinsicht im HNO-Bereich einigermaßen auskenne. 😉
Frau Dr. K. war eine sehr handfeste Ärztin, und da ich häufiger mal eine Angina hatte, blickte sie gern besonders tief in meinen Rachen, das ging wirklich zack-zack (wenn sie die Unterhaltung mit meiner Mutter dann tatsächlich definitiv unterbrach, um mir schließlich doch nach langem „Vorspiel“ mit dem Holzspatel auf die Pelle zu rücken), aber trotz ihrer bisweilen robusten Art liebte ich sie heiß und innig – nicht nur wegen der Bonbons. Ich mochte sie so gern, dass ich ihr nicht einmal übelnahm, wenn sie mich liebevoll als „kleine Ziege“ oder „kleines Weib“ bezeichnete. Das durfte beileibe nicht jeder, sie schon. 😉 Sie war völlig unprätentiös, und ich wette, hätte ich wirklich mal im Zuge einer ihrer Holzspatel-Attacken ins Sprechzimmer gespien, hätte sie wahrscheinlich höchstselbst einen Feudel geholt und die Bescherung persönlich weggewischt. Es war manches Mal kurz davor … 😉
Und da ich sie so gern mochte, dachte ich, ich schreibe mal einen etwas anderen „Nachruf“.
Liebe Ali,
ein wirklich schöner Nachruf auf Frau Dr. K. – Ich werde ihre fröhliche Art und in jeder Lebenslage konstruktive Haltung niemals vergessen. Und das laute ‚klack-klack‘ ihrer Pfennigabsätze, das unweigerlich meinen Herzschlag verdoppelte, weil es bedeutete, dass sie schnellen Schritts ihrer Abteilung zueilte, in deren Wartebereich sich bereits eine riesige Schar kleiner Patienten – darunter auch ich – mit ihren Eltern gesammelt hatte.
Lieben Gruß von Nora
Liebe Nora,
ja, sie war ein ganz besonderer Mensch. Ich habe sie auch nie vergessen und finde ganz erstaunlich, dass ich ihr nie etwas übel nahm, nicht einmal wirklich unangenehme Behandlungen, fiese Spritzen oder Blutabnahmen.
In der Tat, sie trug immer Absätze, mit denen ich wahrscheinlich nach zwei Schritten lang hinschlagen würde, und ihre Art, zu gehen war – wie sie selbst – sehr energisch. 😉 Wenn ich im Wartezimmer saß und hörte das „Klack-klack“ sich von innen der Tür des Sprechzimmers nähern, wusste ich: „Gleich bist du dran!“ Und das in zweierlei Hinsicht, denn der Holzspatel – das Schlimmste an der ganzen Behandlung – dräute … 😉
An Schwester Felicitas erinnere ich mich auch noch, ebenso an Schwester Elisabeth, die mir damals nach der Blinddarm-OP die Fäden zog, nachts bisweilen nach mir sah. Sie war immer sehr lieb, aber ich fürchtete mich speziell nachts immer vor ihrer Nonnentracht … 😉 Und dann gab es noch Schwester Christa, aber die war unmöglich – speziell als Kinderkrankenschwester. Ich habe später auf der Kinderstation, auf der ich Sonntagsdienst machte, nie solch eine Kinderkrankenschwester erlebt – die waren alle lieb zu den Kindern. Es sei denn, die bauten Mist, aber das ist ja etwas anderes. 😉
Viele Grüße,
Ali
Ach, und natürlich nicht zu vergessen, Schwester Felicitas …