Die letzten Tage waren so gewöhnlich und in einem Maße langweilig, dass einem davon beinahe das Gesicht einschlafen konnte. Selbst bei der Arbeit war so wenig Aufregung und fast keine Hektik, dass meine Kollegin Janine und ich gar nicht wussten, worüber wir uns denn – das tun wir gern – echauffieren konnten. 😉 Vielleicht lag es auch daran, dass so viele Leute auf unserem Flur krank waren – es war fast so still wie auf einem Friedhof, mal abgesehen von Kollegin Brigitte.
Es ging so weit, dass ich, obwohl der erste Advent noch relativ weit entfernt war, mit der Weihnachtsdeko im Büro anfing. Das hatte ich die letzten Jahre etwas schleifen lassen, aber Janine ist der Ansicht, Deko müsse sein, und ich bin das desgleichen, nur war dies die letzten Jahre etwas zu kurz gekommen, da ich mit Ex-Kollegen Birger (huch, jetzt hätte ich fast „Birgit“ geschrieben, aber so sehr will ich Birger dann doch nicht auf die Füßchen treten … 😉 ) ja nie so recht übereinstimmte, nicht mal bei der Weihnachtsdekoration. Da ließ ich es doch lieber ganz bleiben.
Aber vor lauter Langeweile habe ich jetzt ein kleines, kitschiges „Stillleben“ auf der Theke errichtet, die meinen Arbeitsbereich vom vorderen Teil meines Bürobereichs trennt, richtig heimelig. Und eben superkitschig. Aber in der Vorweihnachtszeit ist Kitsch ja nahezu Pflicht. 😉 Auf meiner Fensterbank dann Ähnliches, und am Montag werde ich Janine mit einem Bund Tannengrün und einer LED-Lichterkette aus lauter kleinen Elchen überraschen. Die LED-Elche waren bei Tchibo reduziert zu haben. Wie hätte ich da widerstehen können? 😉
Gut, das Theken-Stillleben verwirrte meinen Chef zunächst, da es an der Stelle steht, wo ich sonst immer einen Teller mit Süßigkeiten stehen habe. Fast hätte er sich die zum Stillleben zugehörige LED-Lichterkette – in diesem Falle keine Elche – partiell einverleibt, als er in Gedanken an der Theke stand und automatisch nach einem Objekt auf dem Teller griff, auf dem das Arrangement steht bzw. liegt, demselben, auf dem bis dato Süßigkeiten lagen. Im letzten Moment stutzte er, weil das Objekt leuchtete und noch weitere daran hingen. Eben eine Lichterkette … 😉
Da mein Chef so enttäuscht dreinblickte, weil nun keine Weingummitiere, Plätzchen, Lebkuchen mehr auf der Theke stehen und ich ein bisweilen viel zu weiches Herz habe, was mir Uneingeweihte nicht unbedingt anmerken, habe ich am nächsten Tag einen weihnachtlichen Deko-Teller mitgebracht und ihn mit Zimtsternen befüllt ans andere Ende der Theke gestellt. Mein Chef steuerte auch noch eine Packung Spritzgebäck bei. Die Zimtsterne, zwar nicht selbstgebacken, aber durchaus wohlschmeckend, waren ruck-zuck weg, nur das Spritzgebäck blieb liegen wie die Zeitung von gestern. Mein Chef wirkte ein wenig geknickt und enttäuscht. Janine und ich aßen, als er in einer Besprechung war, rasch je ein Plätzchen. Ein wenig trocken war es. Als mein Chef aus der Besprechung kam, wies er erneut auf seine Plätzchen hin – Janine und ich reagierten fröhlich und versprachen, alsbald mehr davon zu essen. Nur hätten wir gerade das Mittagessen hinter uns. Mein Chef verschwand in der nächsten Besprechung. Janine sah mich an und meinte: „Was machen wir denn jetzt? Die Plätzchen sind nicht so mein Fall, aber ich kann es auch nicht gut haben, wenn dann jemand enttäuscht ist. Das kann ich sogar überhaupt nicht haben.“ – „Ich auch nicht.“ Bekümmert sahen wir einander an. „Vor allem, wenn Männer an so etwas denken, und dann kommt es nicht so gut an. Was machen wir denn jetzt?“ fragte Janine. „Ich weiß es doch auch nicht – mir tut das auch leid. Hast du gesehen, wie enttäuscht mein Chef geguckt hat?“ – „Nun mach es doch nicht noch schlimmer!“ – „Aber wirklich ganz enttäuscht – der Arme!“ Und wir saßen beide etwas betreten da. (Offenbar hatten wir sonst keine Probleme und scheinen in gleichem Maße gefühlsduselig zu sein. Oder – sagen wir es netter – bemüht, niemanden zu enttäuschen. Klappt nicht immer.) Immerhin schaffte ich es, das Ruder herumzureißen, indem ich aufstand, in die Küche ging, einen Teller holte, tatkräftig einen größeren Teil der Plätzchen darauflegte und damit eine Runde über den partiell verwaisten Flur drehte. Ich wurde alles los. Zwei Kollegen lobten die etwas trockenen Plätzchen – das sei das leckerste Spritzgebäck, das sie je gegessen hätten. Ich dachte: „Ihr kennt das Spritzgebäck meiner Mutter nicht!“ Vielleicht bin ich diesbezüglich aber auch etwas verwöhnt.
Mein Chef strahlte, als er sah, dass so viele Plätzchen vom Teller verschwunden waren. Hoffentlich bringt er keine neuen mit … 😉
Die Arbeitstage schlichen so zäh dahin, als wären sie aus flüssigem Gummi arabicum. Es war zwar einiges zu tun, aber alles langweilige Routinearbeit. Gegen 17, 17:30 Uhr packten Janine und ich immer unsere Sachen zusammen und brachen auf. Sie nimmt mich immer ein Stück mit, dann laufe ich in die Stadt, kaufe ein und fahre dann mit der Straßenbahn nach Hause.
Vorgestern stieg ich leicht frustriert in die Straßenbahn, die ich auf dem letzten Drücker erreicht hatte. Es regnete, die meisten Leute sahen nicht glücklich drein, aber ich hatte immerhin das kleine Erfolgserlebnis, die Bahn doch noch kurz vor deren Abfahrt erwischt zu haben. Sie war ziemlich gut gefüllt, aber in einem der Bereiche, in denen auch Kinderwagen und Fahrräder stehen können, war noch ein Klappsitz frei, auf den ich mich gleich stürzte. Aus dem Augenwinkel hatte ich gesehen, dass auf dem Platz daneben eine junge Frau saß, die mit ihrem Smartphone hantierte.
Ich setzte mich hin und atmete auf. Hoffentlich fuhr die Bahn bald ab – ich wollte nach Hause, mich auf der Couch in eine Decke kuscheln und eine DVD gucken, ungeachtet der Tatsache, dass ich immer wieder auf der Couch einschlafe und dann mit Schmerzen in Armen und Schultern wachwerde. 😉
Da hörte ich plötzlich von rechts, wie die junge Frau laut: „Mhhh! Mhhhh!“ machte. Offenbar telefonierte sie mit jemandem. Oder hatte vor ihrem geistigen Auge einen leckeren Kuchen oder ein besonders lecker aussehendes Steak oder so etwas in der Art. Als sie diese Laute erneut von sich gab, drehte ich mich zu ihr um und blickte in das strahlende Gesicht einer jungen Schwarzafrikanerin mit blondierten Haaren. Sie strahlte mich an und meinte in etwas gebrochenem Deutsch: „Chanel!“ Ich sah sie überrascht an, und da rief sie: „Du trägst Chanel! Parfum! Ne?“
Ich musste amüsiert lachen, denn trotz ihres etwas, aber nur leicht gebrochenen Deutschs hatte sie sich doch eine der Besonderheiten der Region hier schon angewöhnt: das, was man Frageanhängsel nennt und hier im „Revier“ im westlichen Teil „ne“, im östlichen Teil „woll“ lautet und der Bekräftigung des Gefragten dient, vergleichbar dem hochdeutschen: „Nicht wahr?“. Ich bin im „[…], ne?“-Teil aufgewachsen. „Woll“ geht gar nicht. Finde ich. Separatismus im Pott. 🙂
Ihre fröhliche Art steckte an, und ich meinte: „Nee, kein Chanel. Das kann ich mir nicht leisten. ‚Roberto Cavalli‘.“ – „Aaah – riecht total gut! Bis wohin fährst du?“ Ich nannte die Haltestelle, und sie meinte: „Schade, muss ich weiter. Riechst du wirklich gut – schade, dass du vor mir aussteigst.“ Ich lachte und zog aus meiner Tasche den Flakon. Und dann bat ich sie, mir ihre Hand hinzuhalten. Sie tat es, und ich sprühte etwas von dem Parfum darauf. Dazu sagte ich: „So. Das hält sicher bis zur Endhaltestelle.“ Da nahm sie meine Hand und drückte sie ganz fest. „Bist du wirklich lieb! Danke schön!“ – „Ach was – ist doch nur etwas Parfum.“ – „Nee, ist wirklich total lieb! Geht nicht nur um Parfum.“ – „Danke schön, und das Kompliment kann ich erwidern – du bist auch nett und hast es gerade geschafft, dass ich gute Laune bekommen habe.“ – „Echt? Hattest du keine schöne Tag?“ – „Nicht so. Daher vielen Dank.“ Sie freute sich, ich mich auch.
Als ich ausstieg, rief sie hinter mir her: „Schöne Abend noch und alles Gute!“ Ich rief zurück: „Auch einen schönen Abend und alles Gute!“ Und wir winkten einander zu, als ich in den Regen hinausging, um bei meinem Arzt endlich meine Versichertenkarte für dieses Quartal vorzulegen, was ich schon seit etwa drei Wochen geplant hatte. Als ich ankam, war alles dunkel – Urlaub. Da raffe ich mich einmal auf …
Ich ging zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Dort saß ein älterer Mann im Wartehäuschen, der von weitem wie ein Penner aussah. Och, nee … Nix gegen Penner, aber neulich ist einer, dem ich eine Zigarette gegeben hatte, übergriffig geworden und wollte mir gleich die ganze Schachtel abnehmen. Gelungen ist es ihm nicht …
Doch es regnete stark, ich hatte keinen Schirm dabei, und so musste ich auch ins Wartehäuschen, wenn ich nicht völlig durchnässt werden wollte. Und da dann die zweite, nette Überraschung des Tages: Der ältere Herr sprach mich gleich an, sehr freundlich, und wir plauderten zunächst übers Wetter, dann über den Weihnachtsmarkt, die allgemeine Weltlage – und es war wirklich nett. Als er meinte, nun werde er sich noch etwas zu essen holen und auf die Imbissbude hinter uns deutete, sich mühsam erhob und an einem Stock dorthin humpelte, bin ich hinterhergelaufen und habe ihm auf der Treppe in den Imbiss geholfen. Da meinte er: „Ganz herzlichen Dank, junge Frau. Sie haben mir gerade den Tag gerettet – es sind nicht alle Leute so hilfsbereit und nett.“
Und so fuhr ich dann nach Hause, guter Laune. Es sind manchmal wirklich Kleinigkeiten, die einen weniger schönen Tag retten können – ich stelle es immer wieder fest. 🙂