Ich habe heute um Punkt acht Uhr achtunddreißig einen schwerwiegenden Entschluss gefasst: Ohne Not helfe ich nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr so schnell.
Ich kenne mich. Ich werde diesen Entschluss zwar nicht bereuen, aber brechen. Ich bin so, ich kann nicht anders. Manche Menschen halten mich daher für inkonsequent, aber ich bin nicht inkonsequent, sondern einfach nur zu gutmütig. Manchmal jedenfalls. 😉 Eigentlich gar nicht so selten, nur tarne ich das nach Möglichkeit. Wie schon einmal gesagt: Im Grunde bin ich, wäre ich ein Hund, ein Labrador, aber ich beherrsche echtes Dobermanngehabe. Zumindest das Gehabe, welches viele Menschen mit einem Dobermann verbinden, obwohl auch diese Hunde ein freundliches Gemüt besitzen, bei entsprechender Behandlung aber auch ganz anders können. 😉
Gestern kam eine Kollegin an und klagte, sie müsse nach der Arbeit noch einen dienstlichen Expressbrief zur Post bringen, weil der Chef unserer internen Poststelle – ich bezeichne ihn seiner Attitüde wegen gern als „unseren Postminister“, was ihm schmeichelt, aber gar nicht so gemeint ist, was außer ihm auch jeder versteht – sich außerstande sähe, den Brief seinerseits, obwohl es seine Aufgabe ist, beim nächsten Postamt einzuliefern. Ich staunte da schon, denn ich hätte mich mit dieser Auskunft nicht so schnell abspeisen lassen, aber die Kollegin ist bisweilen etwas unsicher, und da hat sie den wirklich wichtigen Brief halt wieder mitgenommen.
Sie arbeitet halbtags, bleibt aber auch gerne ohne Not schon mal länger – warum, verstehe ich nicht. Ich bin da etwas anders. Wenn ich länger bleibe, hat das zumeist dienstliche Gründe. Ich bleibe nicht länger, weil ich mein Büro so schnieke finde. 😉 Und nicht umsonst ringe ich derzeit mit Minusstunden auf meinem Gleitzeitkonto. Die Kollegin, nennen wir sie Andrea, hat wahrscheinlich das an Plusstunden, völlig unnötig, was ich an Minus vor mir hertrage. Vielleicht sollten wir einfach tauschen oder einen Ausgleich schaffen. Jedem wäre geholfen. 😉
Gestern kam sie an und klagte ein wenig, dass sie nun nach der Arbeit ja noch einen wichtigen Brief bei der Post einliefern müsse. Ich meinte, das sei doch aber dann ein Dienstgang, und das solle sie, bitte, auch so handhaben, auch wenn es sich direkt an ihren Feierabend anschließe. Sie solle sich das einfach von ihrer Chefin so anordnen lassen. Sie erklärte in epischer Breite, dass sie ja ohnehin noch zu ihrer Bank müsse, offenbar einer nur spärlich vertretenen solchen, deren nächste Filiale sich am gleichen Ort befinde wie ein ihr bekanntes Postamt. Dennoch wisse sie nun nicht, ob das ein Dienstgang sei oder nicht. Ich meinte: „Hier wird immer zur Arbeitnehmerseite alles hyperkorrekt und auf die Minute genau abgerechnet, also solltest du das Ganze auch als Dienstgang handhaben. Ich frage aber auch gerne noch einmal nach.“ Ich sitze quasi an der Quelle der Lösung solcher Fragestellungen, und für mich bedeutet es nur einen kleinen Moment oder Schritt, so etwas zu klären. Dachte ich.
Es ging ja nicht nur um Andrea. Die ist extrem gutmütig, macht bisweilen Dinge, die sie nicht machen müsste, die dann aber unter Umständen für selbstverständlich für alle genommen werden. Das muss nicht sein – wir sind ohnehin alle schon nicht über Gebühr entlohnt, und auch noch Freizeit zu opfern, um Dienstbriefe bei der Post einzuliefern, ist etwas, mit dem ich seit einiger Zeit auch nicht mehr so gutmütig agiere. Mit Gründen.
Als die Gelegenheit günstig war, fragte ich meinen Chef. Ich wollte das Ganze gern generell geklärt wissen, da auch ich schon von derlei Dingen betroffen war, das Ganze zwar immer als Dienstgang nach offiziellem Feierabend gehandhabt worden war, aber nie eine generelle Regelung bestanden hatte.
Hätte ich doch nur nie gefragt! Mein Chef wollte sich der Angelegenheit annehmen, und das tat er auch, sehr, sehr intensiv bei einer langen Unterredung mit dem Personalveranwortlichen und teilte mir heute früh mit, es handle sich in der Tat selbstverständlich um einen Dienstgang. (War klar, zumindest jedem außerhalb des öffentlichen Dienstes … 😉 )
Und so schritt ich erfreut zu Andrea, um ihr mitzuteilen, dass sie nicht umsonst den weiten Weg zur Post genommen hatte!
Ich fand sie hektisch und zerfahren vor. Irgendetwas passte nicht, als ich ihr mitteilte: „Andrea, das von gestern war in der Tat offiziell ein Dienstgang. Du musst jetzt nur noch einen Korrekturbeleg ausfüllen und den dann in der Personalabteilung einreichen!“ Und euphorisiert starrte ich Andrea an, denn ich freute mich, dass die Lösung des Problems nur relativ wenig Zeit in Anspruch genommen hatte, obwohl ich – ganz privat – angenommen hatte, dass man dies auch schon gestern hätte klären können. Ich bin trotz vieler Jahre im öffentlichen Dienst bisweilen immer noch zu „wurschtig“. 😉 Der öffentliche Dienst und ich sind zwei Welten, wie es scheint. ÖD ist etwas, in dem Dogmatiker aufgehen, aufblühen und sich absolut wohl fühlen. Eindeutig problemorientiert. Ich bin anders. Ich versuche immer, lösungsorientiert zu arbeiten, wie ein Pragmatiker. Und so freute ich mich auch, Andrea mitzuteilen, dass ihr Problem gar keines mehr sei.
Aber ich stieß auf Unverständnis! Als ich ihr berichtete, sie müsse nur noch einen Korrekturbeleg ausfüllen, starrte sie mich in einer erstaunlichen Mischung aus kühler Panik an (ja, ich weiß, dass das ein Widerspruch in sich ist, aber ihr kennt die Kollegin nicht …) und meinte in unfreundlich-hektischem Tonfall: „Dann erkläre mir doch mal, was ich hier machen soll! Das kann ich doch gar nicht ausfüllen!“ Ich starrte sie verständnislos an – wo war das Problem? Ich sah keines, aber sie erklärte mir in ein-deu-ti-gem Gebaren, dass sie ja um Punkt 13:23 h unseren Arbeitgeber verlassen habe, da sie exakt so ausgestempelt habe. Und um Punkt 13:37 h sei sie an der Post vorbeigefahren, auf der Suche nach einem Parkplatz. Um Punkt 13:43 h habe sie dann die Post betreten und sei um Punkt 13:49 h wieder hinausgegangen. Wie sie das denn da eintragen und vor der Personalabteilung rechtfertigen solle! Und flinken Fingers deutete sie auf einen Passus in unserem gängigen Zeitkorrekturbeleg, den ich heute zum ersten Male las: „Hiermit bestätige ich die Richtigkeit meiner Angaben. Ich bin mir darüber bewusst, dass falsche Angaben zu personalrechtlichen Folgen führen können […]“ Und sie meinte: „Ich kann doch die paar Minuten nicht angeben! Am Ende habe ich ein Disziplinarverfahren am Hals!“ Ich gab – einigermaßen konsterniert – zurück: „Warum veranschlagst du nicht einfach eine halbe Stunde, wie das jeder hier in so einem Falle tut und völlig anerkannt ist? Bedenke doch auch die An- und Abfahrtszeit, die Suche nach einem Parkplatz!“ Allein, meine Worte verhallten ungehört … Hingegen starrte man mich an, als hätte ich dazu aufgefordert, mitten im Vatikan eine römische Orgie zu feiern! (Obwohl … naja … lassen wir das.) Und dann meinte sie noch: „Hättest du mal deinen Chef nicht gefragt!“ In einem Tonfall, als hätte ich ihr ans Bein gepinkelt! Dabei hatte ich wirklich nur Gutes gewollt. 🙁
Um acht Uhr siebenunddreißig war heute meine Welt in ihren Grundfesten mal wieder erschüttert. Um acht Uhr achtunddreißig erfolgte oben genannter Entschluss. Und wenn wir alle demnächst dienstliche Expressbriefe nach Feierabend in unserer Freizeit aufgeben müssen, ohne dass dieses als Dienstgang angerechnet wird, weiß ich wenigstens, an wen ich mich revanchemäßig zu wenden habe … 😉 Und das Allerschlimmste: Ich mag Andrea – sie ist ein lieber Mensch, aber manchmal etwas anstrengend. Okay, bin ich auch … Daher versuche ich mich ausnahmsweise mal in Nachsicht.
Aber seht zu, dass ihr euch, sofern Pragmatiker, von Dogmatikern so heftigen Weihwassers so fern wie möglich haltet: Ich fühlte mich heute um kurz nach halb neun bereits so, als säße ich schon fünf Stunden am Stück bei der Arbeit … 😉