Docere – movere – delectare …

Für mich geht gerade eine Ära zu Ende. Meine Ära als Dozentin oder besser: als Betreuerin zu betreuender und zu unterstützender Jüngerer. Ich muss leider damit aufhören, da ansonsten die angeblich sichere Rente – danke, Herr Blüm! – noch kritischer ausfällt als ohnehin schon, denn ich war als Lehrbeauftragte tätig und damit leider, anders als verbeamtete Dozenten, nicht rundherum-sorglos abgesichert, da ich diese Tätigkeit als Freiberuflerin ausübte. Das ist heutzutage an Universitäten so üblich – es muss ja gespart werden. Zum Glück habe ich noch eine andere Tätigkeit im Angestelltenverhältnis, demnächst wieder in Vollzeit. Was tut man nicht alles für eine magere Rente! 😉

Ich habe recht früh mit der Unterstützung Jüngerer angefangen, wenn auch zunächst nicht als Dozentin in des Wortes echter Bedeutung: Als ich 17 war – lang ist’s her – fing ich im Krankenhaus meines damaligen Wohnortes als Sonntagshelferin an. Eigentlich hatte ich auf eine „interessantere“ Station gewollt als die, der mich die Schwester Oberin (es war ein katholisches Krankenhaus) dann zuwies. Da ich 17 war, war die einzig interessante Station selbstredend eine Männerstation, aber ich musste hinterher, als ich auf einer solchen mal ausgeholfen hatte, feststellen, dass sich diese in nichts von meiner eigentlichen Station unterschied: der Kinderstation. Angebaggert wurde ich auch auf der Kinderstation – von mehreren älteren Brüdern kleiner Patienten. Und auch Wehleidigkeit war auf beiden Stationen ähnlich verteilt. 😉 (Achtung: Klischee!)

Die Kinderstation, auf die ich zunächst nicht gewollt hatte, habe ich wirklich lieben gelernt! Es war schön, die kleinen oder größeren Kinder zu betreuen, und schon ganz zu Anfang meinte eine meiner Vorgesetzten, eine Kinderkrankenschwester, zu mir: „Du bist sicher die Älteste von mehreren Geschwistern zu Hause, nicht wahr?“ – „Wieso das?“ – „Weil du so fürsorglich und liebevoll mit den Kindern umgehst – das ist ganz typisch für die ältesten von mehreren Geschwistern.“ O je! Ich brach eine offenbar eherne Gesetzmäßigkeit, als ich ihr sagte: „Eigentlich bin ich eher die Jüngste in meiner Familie und habe eine ältere Schwester.“ Schwester Annegret starrte mich perplex an, dann meinte sie: „Dann bist du offenbar ein Naturtalent. Schön!“ Ja, ich war offenbar ein Naturtalent darin, Kinder zum Lachen zu bringen, die zum Teil nicht unbedingt viel zu lachen hatten. Teils tat ich dies völlig unwillkürlich, so beispielsweise in meiner allerersten Schicht, als ich erstmalig ganz allein und ohne Assistenz mit einer gut gefüllten „Ente“, einer Urinflasche, ins Stationsbad schritt, mir meiner Bedeutung wohl bewusst („Seht her, ich arbeite hier, und ich schreite zur Entleerung einer ‚Ente‘!“), und diese Ente vorschriftsmäßig in der entsprechenden Vorrichtung entleeren wollte. Das Leeren stellte auch kein Problem dar – einfach in die Vorrichtung schütten. Dann aber musste das Plastikgefäß über einen senkrecht stehenden Hahn, dessen Öffnung nach oben zeigte, gestülpt und mittels eines sehr starken Wasserstrahls ausgespült werden. „Achte immer darauf, die ‚Ente‘ richtig festzuhalten, denn der Wasserdruck ist sehr hoch; lieber noch einmal nachfassen,“, hatte meine Lehrerin, eine Schwesternschülerin, mir noch gesagt … Ich hatte ihre Worte auch noch im Ohr, aber meine rechte Hand war schneller als die linke, mit der ich gerade noch nachfassen wollte, als meine rechte Hand auch schon die Spülung betätigte: In hohem Bogen schoss die ‚Ente‘ an meinem rechten Ohr vorbei, und ich höre noch heute das hämisch wirkende Geräusch, mit dem sie auf dem Boden aufschlug, noch zweimal abprallte und erneut landete. Erstaunlich, dass ich das wahrnahm, denn ich befand mich in einer ganz anderen Notsituation: Wasser stürzte fontänenartig auf mich ein, unaufhaltsam, unaufhörlich, und das durch einen einzigen unbedacht-voreiligen Druck auf den Auslöseknopf geschehen! Als es aufhörte, war ich völlig durchnässt, und Wasser tropfte aus meinen Haaren. Ich stand völlig derangiert und gleichermaßen erstarrt da, meine Gedanken rasten: Wie um alles in der Welt sollte ich nun, ohne dass jemand mein Pech sah, aus diesem Raum kommen? Ich muss einige Minuten grübelnd und mich nach einem Föhn umsehend verbracht haben. Jedenfalls so lange, dass man mich draußen vermisste. Irgendwann öffnete sich die Tür, und Gerda, die Schwesternschülerin, kam herein, sah mich, fing zu lachen an und meinte: „Ach, herrje! Na, da hast du deine Taufe ja schon hinter dir! Ist uns allen schon mal passiert, keine Sorge. Aber warum hast du denn nichts gesagt?“ Ich starrte sie wortlos an, zeigte dann auf meine durchnässte Gestalt und die tropfenden Haare, hustete einmal – ich hatte sogar Wasser geschluckt – und meinte: „Darum! Oder würdest du freiwillig so herausgekommen sein und etwas gesagt haben?“ Gerda lachte und meinte: „Nee. Ging mir damals genauso, du hast Recht. Aber ich fürchte, wir müssen jetzt hier heraus und dir ein paar trockene Sachen suchen, und du solltest dir auch die Haare föhnen.“ Doch zunächst mussten wir die riesige Pfütze aufwischen, die ich verursacht hatte …

Als wir das Bad verließen, war mein Schicksal besiegelt, denn auf dem Stationsflur war eine Vielzahl an Kindern versammelt, die lachten, als sie mich sahen. Sofort war ich zu einer Art Clown mutiert – die Kinder waren begeistert. Ich weniger, aber ich glaube, das Ganze hat mir die Sympathie vieler Kinder eingetragen, da ich dann auch lachen musste. Was soll man auch sonst machen?

Das Jahr auf der Kinderstation war in jedem Fall sehr schön, und ich habe es nie vergessen, zumal die meisten Kinder mich wohl mochten, ebenso meine Vorgesetzten, die mich sogar zu überzeugen versuchten, Kinderkrankenschwester zu werden. Witzig, denn vor meiner Tätigkeit im Krankenhaus hatte ich mit Kindern rein gar nichts am Hut gehabt, fand sie eher nervend. Aber es gab so viele Vorteile, die mit dieser Tätigkeit einhergingen: Unter anderem habe ich im Krankenhaus gelernt, Betten mit ganz normalen Laken zu beziehen! 😉 Vorher hatte ich nur mit Spannbettlaken umgehen können, aber seit meinem Ehrenamt im Krankenhaus macht mir beim Beziehen mit normalen Laken ohne Gummizug so schnell keiner was vor! 😉 Beim Füttern essunwilliger Kinder auch nicht, und nein, das geht nicht mit Druck, sondern nur mit Gefühl und Spaß. Eines dieser kleinen Kinder nannte mich hinterher sogar immer zur Begeisterung seiner Zimmergenossinnen „Mama“, was der richtigen Mama gar nicht gefiel – ich gebe zu, das hätte mir in ihrem Falle auch nicht gefallen. Mich aber daraufhin anzuschreien, fand ich auch nicht okay, aber es gab einige interessante Fälle bei den Eltern. 😉

Während meines Studiums und danach habe ich nebenbei in einer privaten Sprach- und Förderinstitution gearbeitet, gab dort Nachhilfe in Englisch und Deutsch wie auch Sprachkurse in beiden Fächern. Anfangs war ich etwas schüchtern, aber das änderte sich schnell, und mein Chef nannte mich irgendwann „meine Wunderheilerin“, wie er mir einmal erzählte. Ich war verblüfft – wie kam er denn darauf? Er meinte: „Weil Sie sogar schwierigere Fälle in kurzer Zeit dazu bringen, begeistert mitzumachen und die sich ganz schnell verbessern. Eigentlich sind Sie ja fast geschäftsschädigend, so schnell, wie das manchmal geht. Aber ich finde das sehr schön und gehe öfter an Ihrem Raum vorbei, wo ich auch manchmal stehenbleibe. Immer hört man Lachen, und es herrscht sehr gute Stimmung. Ihre Schüler kommen auch immer fröhlich aus dem Unterricht und verbessern sich wirklich schnell – das ist faszinierend. Wie machen Sie das?“ Ich muss gestehen, ich hatte keine Ahnung. Ich bin nur immer mit meinen Schülern so umgegangen, wie ich selber wünsche, dass man mit mir umgehe: mit Respekt. Und mit einer großen Portion Humor – ohne den geht meiner Meinung nach gar nichts. Mein Chef nannte mich „ein wunderbares Aushängeschild für meine Firma“ und sagte, es gäbe inzwischen diverse Schüler, die auf Empfehlung von Eltern anderer Schüler, die ich unterrichtet hatte, angemeldet worden seien. Ich kam mir als Aushängeschild etwas komisch vor, aber mein Chef meinte, er schätze meine Arbeit sehr. „Welche Arbeit?“ dachte ich, denn mir machte das Ganze wirklich Spaß, und ich habe diverse Schüler betreut, einige davon durchs Abi begleitet, anderen die Übergangsprüfung von der Realschule aufs Gymnasium etwas erleichtert. Erleichtert auch deren Eltern, und nicht selten ging ich mit Blumensträußen nach Hause, die Eltern mir unbedingt überreichen wollten. Ich freute mich immer sehr, aber ich wunderte mich auch etwas: Für mich war das mein Job und ganz normal.

Da mein Chef mich für eine „Wunderheilerin“ hielt, bekam ich auch oft wirklich problematischere Fälle. Einer war im Endeffekt dann wirklich amüsant: Ein kleiner, zehnjähriger Junge, Niko, der plötzlich und ohne Vorankündigung angefangen hatte, schwierig zu werden, sich beim Einkaufen wie ein Kleinkind zu gebärden und, bekam er etwas nicht gekauft, sich wie ein Zweijähriger auf den Boden zu werfen und zu schreien. Den bekam ich vermittelt … Die erste Stunde verlief so, dass der kleine Kerl wie ein kleiner, zorniger Stier neben mir saß und keine meiner behutsam gestellten, allgemeinen Fragen im Fach Deutsch beantwortete. Ich redete als Einzige in dieser Stunde, gleichbleibend freundlich und behutsam. Nachdem die Stunde beendet war und Mama und Oma, zwei typische „Öcher Mädels“ und sehr energisch – sie hatten wohl zu Hause das Sagen, die zugehörigen Männer eher Beiwerk, wie man auch aus ihren Äußerungen ableiten konnte -, den kleinen Niko eingesammelt hatten, der auch da kein Wort sagte, meinte ich zu meinem Chef: „Hören Sie – hier stimmt doch etwas nicht! Der kleine Kerl hat kein Wort gesagt, nur total geladen neben mir gesessen. Gibt es da irgendetwas, das ich beachten oder wissen sollte?“

Es stellte sich heraus, der kleine Niko war ein Scheidungsopfer, da „Mama“ sich kurz zuvor von seinem Vater, dem „Beiwerk“, hatte scheiden lassen. Gut, dass ich das nach der Stunde auch schon erfuhr! 😉 Immerhin war ich in den nächsten beiden Stunden in Kenntnis dieser Sachlage, als Niko erneut zornig und schweigend neben mir saß, während ich in dieser angespannten und latent explosiven Atmosphäre vorsichtig versuchte, die mir inzwischen bekannte Problematik zu thematisieren. Mitten in meine Bemühungen hinein geschah dann das völlig Unerwartete! Niko öffnete seinen Mund und begann zu sprechen! Er konnte sprechen! Und er sagte: „Gegen mich kommen Sie ohnehin nicht an! Ich bin Sternzeichen Löwe, und Mama und Oma sagen, gegen Löwen kommt keiner an!“ Und er sah mich triumphierend von der Seite an, ganz à la: „Der habe ich es aber gegeben!“ Ich hingegen atmete auf und sandte Dankesworte an wen auch immer: „Danke, dass das doch so leicht ist!“ Und ich lächelte Niko an und meinte: „Tja, da hast du leider Pech gehabt. Ich bin auch Löwe, und wie du ganz richtig sagst: Dagegen kommt keiner an. Was jetzt?“ Der kleine Kerl starrte mich verblüfft an, dann grinste er und meinte: „Okay.“ Das Eis war gebrochen, und er erzählte mir vertrauensvoll, weswegen er so unausgeglichen sei und was ihn so umtreibe. Kummer war es, aber das hatte ich mir auch schon gedacht. Er fühlte sich abgelehnt, weil Mama und Oma dauernd über Papa schimpften, und der war doch Nikos Vorbild. Ich gebe zu, ich hatte etwas Fracksausen, das Mama und Oma zu erklären, die beide Haare auf den Zähnen hatten, aber die beiden waren erstaunlich einsichtsvoll und dankten überschwenglich – das werde nicht mehr vorkommen. Niko grinste mich an und meinte zu Mama und Oma: „Meine Lehrerin ist auch Löwe! Sonst hätte ich der das gar nicht erzählt!“ Wozu Sternzeichen doch manchmal taugen. Ich muss übrigens hinzufügen: Ich bin wirklich ein Löwe, hätte aber in diesem Falle auch dreist gelogen, wäre das nicht der Fall gewesen. 😉

Zehn Jahre habe ich dort gearbeitet, und seit acht Jahren arbeite ich schon an der Uni einer Nachbarstadt, das sehr gern und auch erfolgreich und mit sehr guter Resonanz. Man muss sich die Schüler oder Studenten nur genau ansehen und genau hinhören – das ist bereits die halbe Miete. Und ernstnehmen muss man seine Klientel und seinen Job, und man muss ihn wirklich gern und überzeugt machen. Auch Lob ist sehr wichtig, was ich immer so gehalten habe. Niemals übertreiben, wenn es keinen Anlass zum Loben gibt, aber immer motivieren. Eine Studentin fragte mich mal: „Wie machen Sie das eigentlich, Frau B.? Sie haben ja offenbar nie schlechte Laune!“ Ha! Ausgerechnet! 😉 Ich sagte: „O doch! Aber ich muss die doch wohl nicht an den Studenten auslassen, die nichts dafür können. Wenn Sie doch die Ursache sind, merken Sie das sofort, denn ich kann auch ganz anders.“

Aber mein Motto ist immer: „Docere – movere – delectare.“ Anders funktioniert es nicht. Schade nur, dass ich das nicht weitermachen kann … 🙂

Ein Gedanke zu „Docere – movere – delectare …

  1. Heide sagt:

    Es ist wirklich traurig und ein Verlust
    Ich hoffe du findest in der sozialversicherungspflichtigen Welt wieder deinen Platz
    Denn so ist es weder für dich noch für die Lernenden gut

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