Ich gebe zu, ich bin bisweilen ein etwas lückenhafter Mensch. Das ist auch gar nicht immer so verkehrt, bewahrt es doch vor einem Zug, der leicht ins Übersteigerte, gar Pathologische driften kann, wenn man nicht so gut loslassen kann: Perfektionismus. Zwar gebe ich auch zu, dass auch ich alles immer so gut wie möglich und noch besser machen möchte, aber ein anderer Wesenszug meiner Wenigkeit hindert mich glücklicherweise an der präzisen Umsetzung und der Gefahr, wirklich verbissen um Perfektion zu kämpfen. Es ist eine gewisse Tendenz dazu, mich zu verzetteln, jedoch auch eine zur Bequemlichkeit, die Tendenz zur Lücke. Zwar sehe ich zu, dass ich möglichst überdurchschnittlich abschneide oder – in meinem Fachgebiet – tatsächlicher Ehrgeiz aufkommt, denn da will ich wirklich gut sein, aber Perfektion? Ach, nein, die ist doch eh eine Illusion, und ich habe schon diverse Perfektionisten am Rande der Verzweiflung gesehen, als sie dies erkennen mussten, dennoch in Terriermanier nicht aufgeben oder ablassen konnten. Nun liebe ich gerade Terrier sehr, und mich amüsiert ihr zumeist sehr lebhaftes, engagiertes Wesen, aber das sind Hunde, und bei Menschen wirkt die Fähigkeit, nicht loszulassen, und wenn es das Leben koste, bisweilen eher distanzschaffend. Zumindest bei mir, vor allem, wenn es nicht gerade um Leben und Tod geht, sondern um ganz alltägliche Dinge, bei denen es im Grunde keinen großen Geist stört, ob sie nun perfekt gelöst seien oder nicht. Hauptsache, die Sache funktioniert, wenn sie funktionieren muss – alles andere ist Kür.
Ich handle da gemäß einem Zitat Rainer Maria Rilkes, das meine Mutter, die ihrerseits allerdings zur Perfektion tendiert, mir einst in mein Poesiealbum schrieb: „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“ Ich glaube zwar nicht, dass Rilke das so gemeint habe, wie ich das hier nun auslege, aber es gibt ja immer ganz unterschiedliche Interpretationsansätze.
Als ich noch ganz klein und zahnlos war, ahnte noch niemand etwas von meiner Lückenhaftigkeit. Ich konnte mich noch nicht so recht artikulieren und galt als sehr freundliches, unproblematisches Baby. Dann kamen die Zähne, und da erkannte man bereits meinen Hang zur Lücke. Genauer: als die oberen zentralen Schneidezähne durchbrachen und wuchsen. Denn zwischen diesen beiden Milchzähnchen klaffte eine Lücke! Die hatte ich – durch die verschlungenen Pfade der Genetik – wohl von meiner Oma Margareta geerbt, denn die hatte auch so eine Zahnlücke, die ihr wirklich gut stand. Betrachtete man Oma Margaretas Schwestern, meine Großtanten, konnte man nur konstatieren, dass ich hinsichtlich des Phänomens zwischen den oberen zentralen Schneidezähnen eindeutig nach diesem Familienzweig schlug.
Ich habe gar nichts gegen ein Diastema, wie das in der Fachsprache heißt – ich finde meine Kinderfotos sogar richtig süß, da die Zahnlücke sehr charmant wirkte. Aber mein Vater gab zu bedenken, dass das mit fortschreitendem Alter sicherlich nicht mehr so reizend wirken könne, ein Urteil, das ich nicht zwangsläufig teile. Viele sogenannte Schönheitsfehler sind gar keine Fehler, sondern unterstreichen vielmehr das Wesen ihres Trägers, finde ich. Dennoch, es half nichts, und im zarten Alter von sieben Lenzen wurde ich zu einer Kieferchirurgin gebracht, die sogleich feststellte, das Lippenbändchen sei zu lang und habe die Lücke verursacht. Würde man es kürzen, würden die Zähne zusammenwachsen, vor allem die bleibenden.
Ich erinnere mich nur sehr ungern an die operative Prozedur – es war alles sehr schmerzhaft, die Ärztin darüber hinaus ein echter Kinderschreck. Als sie mir zwecks Anästhesie eine Spritze in den harten Gaumen rammte, gab ich zwar keinen Ton von mir und sagte kein Wort (wie auch, ich hatte eine lange Kanüle im Gaumen stecken und von daher eine Maulsperre), aber mir liefen zwei Tränen aus den Augen, da es nicht sonderlich angenehm, sondern sehr schmerzhaft ist, eine Spritze, noch dazu mit so viel Verve, dorthinein verabreicht zu bekommen. Der Kinderschreck schnauzte mich befremdet an: „Wieso heulst du? Tut das etwa weh?“ Aber nein! Was für ein Ansinnen – als täte das weh! Mir liefen die Tränen vor Freude aus den Augen, weil ich endlich, endlich den Dorn im Auge meines Vaters, die Zahnlücke, loswurde! 😉
Und tatsächlich bewirkte die OP, dass meine bleibenden Schneidezähne völlig lückenlos so dicht beieinander standen, als seien sie quasi aus einem Guss. Völlig uncharmant.
Offenbar fehlte mir meine Lücke auch, da ich ja, siehe oben, zur Lückenhaftigkeit tendiere, und so musste ich mir eben andere Lücken schaffen. Die Schule bot sich hier an, und dort speziell Mathe und Naturwissenschaften. (Ich glaube allerdings kaum, dass ich mit Zahnlücke in diesen Fächern besser gewesen wäre.) Von Schuljahr zu Schuljahr hangelte ich mich mehr unlustig durch, und, nein, ich bin nicht stolz darauf, in Mathe so lückenhaft zu sein, wie man manchen Leuten bisweilen glauben könnte, die damit herumzuprahlen scheinen, sie könnten Mathe nicht, als sei dies eine Auszeichnung. Keine Lücken hatte ich in allen sprachlichen und musischen Fächern, im Gegenteil, die gesellschaftswissenschaftlichen waren im Rahmen, aber von mir nicht sonderlich begeistert bearbeitet – auch da die eine oder andere Lücke.
Mein Abitur habe ich auch mit einer eklatanten Lücke im Fach Bio, wo ich keine wirklich gute Note einfuhr, bestanden. Und im Studium war mir dann klar: „Man kann nicht alles gleich gut können.“ Die Erkenntnis war zum Glück beim Examen vorhanden, das ich in allen Fächern gut abschloss, aber in einem meiner drei Fächer beinahe nicht ganz so gut, als der Professor sich ausgerechnet das Teilgebiet zur Abfrage heraussuchte, wo meine einzige Lücke klaffte, dafür umso größer. Es war keine Lücke, es war eher ein furchtbarer Abgrund. Dabei hatte ich just dieses Teilgebiet besonders akribisch gelernt, hatte ich doch bereits früh festgestellt, dass diese Literaturtheorie partout nicht in meinem Hirn haften bleiben wollte. Es gelang mir, den Prüfer mittels einiger eher allgemein gehaltener Aussagen und eines eleganten Schlenkers dann wieder in sicherere Gewässer zu lotsen. Zunächst beharrte er noch auf meinem Krisengebiet, aber ich bin zum Glück nicht auf den Mund gefallen und argumentierte, als ginge es um Leben und Tod, in meinem Sinne. Er grinste dann und ließ sich darauf ein, nachdem er festgestellt hatte, dass meine eher allgemeinen Aussagen zum Thema ja auch schon völlig hinreichend seien und meine Argumentation im Sinne des Fachs und sehr logisch sei. Danke, Prof. D.! 🙂 Alles andere konnte ich ja wirklich gut.
Im Beruf dann musste ich feststellen, dass man manchmal gar nicht umhin kommt, Lücken zu akzeptieren, aber ich sehe zu, dass ich sie dort vermeide – immerhin verdiene ich meinen Lebensunterhalt damit.
Und manchmal kommen Lücken, die man lange behoben zu haben wähnt, wieder. So erging es mir zumindest. Denn wenn man mich ganz genau ansieht, wenn ich lache, sieht man da etwas zwischen meinen oberen zentralen Schneidezähnen. 😉 Da klafft eine Lücke. Keine so ausgeprägte wie die meiner Kindheit, aber eindeutig ist da eine Lücke zu sehen. Wie das?
Nun, ich musste mir vor einiger Zeit einige Zähne abschleifen und überkronen lassen, auch die Schneidezähne. Zunächst sah alles perfekt aus, lückenlos schöne Zähne, viel schöner als meine Naturzähne. Doch nach etwa einem Dreivierteljahr bemerkte ich eine Veränderung: Die Schneidezähne standen nicht mehr exakt zusammen. Sicherlich wäre ich, hätte ich von Kind an und Natur aus direkt zusammenstehende Schneidezähne gehabt, entsetzt sofort zum Zahnarzt gerannt. So aber grinste ich mein Spiegelbild amüsiert und erfreut an – was ich sah, gefiel mir, denn ich finde, solche Lücken haben wirklich einen gewissen Charme.
Und als mein Zahnarzt beim nächsten Besuch die Lücke sah und meinte, das könne man leicht beheben, ob er das eben mal machen solle, meinte ich nur: „Bitte nicht.“ Er war erstaunt, und so erzählte ich ihm meine Lückengeschichte nebst Operation und nachfolgender Lückenlosigkeit, zumindest zahntechnischer. Er grinste und meinte: „Das ist mal eine schöne Einstellung, Frau B.! Das gefällt mir. Alle schreien immer nach Perfektion, und Sie bestehen darauf, die wiedergekehrte Lücke zu erhalten. Und Sie haben auch Recht: Es sieht sehr charmant aus, wenn Sie lächeln.“ Ich lächelte lückenhaft und meinte: „Sehen Sie – was gut ist, kommt wieder.“