Es ist vollbracht: Kollege Birger, der hier in mehreren Geschichten vorkam, hat seinen Arbeitsplatz verlassen und sich zu neuen Ufern aufgemacht. Zwar beim selben Arbeitgeber, aber an einem anderen Standort befindet sich der Ort seines künftigen Wirkens und Schaffens. Wollen wir für unseren feinfühligen Kollegen hoffen, dass er dort finde, was er an seinem bisherigen Arbeitsplatz in den letzten Jahren so missen musste: Freizügigkeit und das Recht, zu tun, was er wolle, und das zu jeder von ihm gewünschten Zeit. Und dafür auch noch Lob und Anerkennung von Chef und Kollegen. Zwei Stunden andauernde Mittagspausen, ohne sich auszustempeln, zum Beispiel. Stundenlange Telefonate mit seiner Frau, seinem besten Freund oder seinen Esoterikgenossen, tiefschürfende Telefonate, bei deren Inhalten sich nicht selten jedem auch nur in Ansätzen vernunftbegabten Menschen die Fußnägel hoch- und wieder zurückrollen, und das wieder und wieder. Urlaub zur Unzeit. Kurz vor Semesterende im Juni den echten Jahresurlaub, drei Wochen lang, während die zurückgebliebenen Kolleginnen in dieser Hochzeit an einer Hochschule auch noch des Kollegen Arbeit stemmen müssen. Kurz vor Weihnachten – ähnliches Szenario, denn vor Jahresende müssen noch alle ausstehenden Prozesse beendet werden – auch noch einmal Urlaub, denn Kollege Birger geht so gern mit seiner Frau auf Weihnachtsmärkte. Das muss man doch verstehen, oder nicht? Es ist zwar nicht so, dass die Kolleginnen nicht auch gerne solche Märkte besuchten, aber das ist doch noch etwas anderes, oder?
Zwischendurch und so, dass man die Kolleginnen hinderte, ihrerseits mal drei Wochen am Stück zu verurlauben, musste auch immer wieder Urlaub sein, und war dieser aufgebraucht, musste der „Bildungsurlaub“ herhalten, finanziert vom Arbeitgeber. Da machte Birger gern so schöne Kurse an der VHS wie „Malen für Burnout-Gefährdete“, „Yoga gegen Stress am Arbeitsplatz“ oder „Bachblüten selbstgemacht gegen den Stress zwischen den Pausen“. Konnte er den Bildungsurlaub in einem Jahr nicht nehmen, ließ er ihn aufs Folgejahr übertragen: Hurra, gleich zehn Urlaubstage zusätzlich! Denn diese Kurse finden zwar jeden Tag statt, aber nur etwa drei Stunden am Vormittag – der Rest ist fra-hei! Glück für Birger.
Kollegin Lydia und ich hätten uns – wir sind Rechtshänderinnen – eher den rechten Arm abgehackt, als Bildungsurlaub zu beantragen. Manch einer mag nun argumentieren: „Selber schuld.“ Aber uns reichten die Fortbildungen, die uns von unserem Arbeitgeber willig gewährt werden. Die nahm Birger überdies in Anspruch … Und beim kleinsten Niesen war er gleich zwei Wochen krankgeschrieben, da seine Ärztin wohl recht freigebig ist, was Krankschreibungen anbelangt. Vielleicht ist sie auch genauso verr…, ääh, umsichtig wie er.
Gestern hatte ich meinen ersten Arbeitstag im Büro nach dem Weihnachtsurlaub. Da Birger nun weg und noch kein Nachfolger bzw. Nachfolgerin am Platze ist, muss ich nun für zwei arbeiten, und das als Teilzeitkraft. Aber das bin ich bei den vielen Fehlzeiten Birgers ja gewohnt. Nur gab es doch einige Unterschiede. Denn Birger hat in den zwei Arbeitstagen vor Weihnachten, als Lydia und ich schon Urlaub hatten, ganze Arbeit geleistet. Zwar hat er uns sehr unangenehme Vorgänge unerledigt hinterlassen, und das in einer Mappe, auf der: „Noch nicht erledigt!“ steht, und das von meiner Hand geschrieben. Denn diese Vorgänge hatte ich vor Weihnachten während Birgers Weihnachtsmarkt-Urlaubs, der eine ganze Woche vom fünfzehnten bis zum neunzehnten Dezember währte, noch nicht erledigen können. Ich ging davon aus, dass er sie erledigen würde, was ja im Grunde auch seine Aufgabe war.
Offenbar hat er mir aber – einmal mehr – übelgenommen, dass ich während seiner Abwesenheit nicht alles hatte erledigen können, und da für ihn seit jeher die Parole: „Nach mir die Sintflut!“ gegolten hat, hat er mir alles unverändert hinterlassen. Vielen Dank, Birger!
Aber ich darf nicht undankbar sein, denn anderweitig hat er klar Schiff gemacht. Als mich gestern der SysAdmin anrief, da wir Störungen mit dem Mailserver hatten, und mir tausenderlei Fakten um die Ohren haute, die ich nicht alle behalten konnte – ich bin keine Informatikerin -, wollte ich mir Notizen machen, während er auf mich einsprach. Energisch zog ich die Schublade an dem Aktenbock auf, der unter Birgers ehemaligem Schreibtisch steht, in der sich das Papier befindet. Beziehungsweise: befand. Gähnende Leere empfing mich – kein einziges Blatt Papier! Nun ja, kein Problem, dann schnappt man sich hilfsweise eines aus dem Kombi-Kopierer-Scanner! Das tat ich und zog dann energisch die Stifteschublade des Aktenbocks auf, griff blind hinein. Nichts! Kein einziger Stift – alles ratzekahl leer! Eine einzelne Büroklammer bohrte sich schmerzhaft in meinen suchenden Zeigefinger, das war alles.
Ungläubig zog ich alle weiteren Schubladen auf – alle leer! Äääh? Musste man das verstehen? Hatte er alle Stifte, alles Papier und alle Mappen mitgenommen? Gibt es am anderen Standort unseres Arbeitgebers etwa kein Büromaterial? Hatte er ein persönliches Verhältnis esoterischer oder spiritueller Natur zu jeder einzelnen Büroklammer aufgebaut, bis auf die eine, die sich mir in den Finger gebohrt hatte? War die etwa böse gewesen und durfte nicht mit?
Da klingelte das Telefon: Kollegin Lydia war dran. Sie meinte: „Ich weiß nicht, ob es dir schon aufgefallen ist, aber in Birgers Schreibtisch ist überhaupt kein Büromaterial mehr. Wir sollten dringend welches beschaffen. Ich verstehe nicht so ganz, warum er alles entfernt hat – wollte er uns eins auswischen?“ – „Dir sicher nicht, vielleicht mir.“ – „Nee, wohl eher uns beiden. Ich habe gestern mit ihm telefoniert, an seinem neuen Arbeitsplatz. Er war total kurz angebunden, hat mir nicht einmal ein gutes Neues Jahr gewünscht.“ – „Dafür hat er uns eine Mappe hinterlassen, mit lauter unerledigten Dingen – ganz besonders unangenehmen.“ Lydia lachte und meinte: „Wundert dich das?“ – „Nein.“
Was lernen wir daraus? Manche setzen Prioritäten irgendwie anders als andere Menschen. Und ich überlege, Birger ein kleines Paket in die Diaspora zu schicken: inliegend Büroklammern, Textmarker, Kugelschreiber, Papier und weitere Dinge dieser Art. Und eine Rolle Klopapier – zur Sicherheit. Sicherlich freut er sich darüber.