Prost Neujahr! „Ali allein zu Haus“: Von Taschentüchern, vermeintlichen Kriegsschauplätzen und guten Vorsätzen

So, nun haben wir ihn alle geschafft: den Übergang zum Jahr 2015. Die einen sicherlich im Zuge (be-)rauschender Partys und Gelage und andere beim Fondue im Familienkreis. Es gibt aber auch noch eine weitere Variante: Silvester auf der Couch! Nein, ich meine damit nicht auf der Couch eines Psychotherapeuten, weil einen pünktlich zum Jahresende auch eine gewisse Endzeitstimmung überfiel, sondern Silvester auf der heimischen Couch, ganz allein. Für mich war das immer eine Horrorvorstellung, aber dieses Mal ging es nicht anders, denn pünktlich nach Weihnachten ereilte er mich: der grippale Infekt, vielfach fälschlicherweise als Grippe bezeichnet, aber – glaubt mir! – eine echte Virusgrippe ist etwas ganz anderes! Da liegt man noch flacher als flach, noch flacher als ich zwischen Weihnachten und dem letzten Wochenende. Und das war schon übel genug.

Es fing an mit Niesen. Dann kamen Halsschmerzen hinzu, nicht etwa „Halskratzen“, die sich schließlich in Husten auflösten, den ich tapfer mit „Gelomyrtol forte“ bekämpfte und dabei noch eine ganz charmante Nebenwirkung erzielte, denn ich musste häufig das Badezimmer aufsuchen, wo ich dann, auf einem gewissen Orte sitzend, längere Phasen verbrachte. Es gibt Medikamente, die gleich mehrfach von Nutzen sind. „Gelo“ hilft nicht nur beim Abhusten, nein – es vermittelt manchen Patienten mit fragilem und besonders sensiblem Verdauungsinterieur auch noch eine weitere Variante der Entschlackung und Loslösung von Angestautem. Auch so kann man Loslassen lernen.

Endlich war der Husten weg, ich atmete befreit auf und wähnte mich in Sicherheit. Doch dann kam sie! Genauer: die richtige Keule, und dies in Form einer Sinusitis, auch als Nasennebenhöhlenentzündung bekannt. Mein Schädel dröhnte aufs Possierlichste, als sei ich versehentlich gegen einen Gong gelaufen, die Region rechts und links der Nase schien zu pochen und reagierte extrem schmerzempfindlich, und binnen Sekunden und als hätte man einen Schalter umgelegt, entfloss meiner Nase Flüssigkeit, als habe sie sich das Motto der Stadt Aachen (auch als „Bad Aachen“ bekannt) zu eigen gemacht – ich sage nur: „Sprudelnde Vielfalt“. Gut, gesprudelt hat nichts, aber es lief und lief konstant, und ich fragte mich schon, ob ich wohl alsbald dehydriert und tot in meiner Wohnung aufgefunden werden würde, wenn das so weiterginge. Auch fragte ich mich, woher denn nur all diese Flüssigkeit komme, und da ich um einen Ausgleich bemüht war, schüttete ich rauhe Mengen Tees in mich hinein. Die Vorstellung, dehydriert und tot in meiner Wohnung aufgefunden zu werden, hatte mich nachhaltig aufgeschreckt.

Wochen zuvor hatte ich mich selbst gescholten, als ich eine Riesenpackung Papiertaschentücher gekauft hatte, denn, wie ich zu Hause feststellte, es waren noch diverse Päckchen vorrätig. Nun kam ich nicht umhin, mich für diesen intuitiv richtigen Kauf zu loben, denn ich habe sie fast alle verbraucht. Saß ich trotz Fiebers am Rechner, weil dauerndes Liegen auch nicht das Wahre ist, sah man zu des Rechners Rechten wie zur Linken zwar niemanden halbiert niedersinken (angeregt durch: „Schwäbische Kunde“ von Ludwig Uhland), sondern – au contraire – beängstigende Berge benutzter Taschentücher wachsen, die ich regelmäßig angewidert abtrug und im Hausmüll verklappte. Es schien wie ein Fass ohne Boden.

Dann kam Silvester, und es zeichnete sich ab, dass ich diesen Abend allein verbringen würde, da für anderes einfach zu schlapp. Morgens schleppte ich mich noch zum Einkaufen, denn die Vorräte waren in den Tagen zuvor doch erheblich abgetragen worden, und essen muss man ja, auch wenn man – dank schlimmer Erkältung – weder riechen, noch schmecken kann, was das Vergnügen deutlich schmälert. Ich kochte mir eine Rindfleischsuppe mit Sternchennudeln, neudeutsch (andere kennen dieses Neudeutsch auch unter dem Namen Italienisch) auch „stelline“ genannt – perfekt für Kranke.

Die Gegend, in der ich hier in dieser Ruhrgebietsstadt wohne, ist für gewöhnlich eine eher ruhige, recht spießig anmutende. Aber eben ruhig, und das ist ein echter Vorteil. Ich lebe inzwischen seit fast zehn Jahren wieder in dieser Stadt, in der ich bereits meine ersten vier Lebensjahre fristete, aber ich hatte – ungelogen – noch nie Silvester hier verbracht, ging aber davon aus, dass in meiner Straße sicherlich um Mitternacht maximal eine halbe Stunde lang geböllert und geknallt werden würde und sich die Anwohner dann wieder in ihre Wohnungen zurückziehen würden.

Ich kann nur sagen: Ich habe mich selten derart geirrt. Denn um Mitternacht setzte hier das Inferno ein! Normalerweise mag ich Silvesterfeuerwerk, und so hatte ich mich auch hier ans Fenster geschleppt, um zuzusehen. Aber binnen kürzester Zeit sah ich kaum noch etwas, da durch die Nonstop-Befeuerung alles im Handumdrehen in eine Art Nebel getaucht war. Nach einer halben Stunde war keineswegs Schluss. Im Gegenteil! Jetzt drehten die Feuerwerker erst richtig auf!

Ich bin in dieser Hinsicht kein ängstlicher Mensch, aber in dieser Situation – ich muss es zugeben – war mir bisweilen doch etwas bang zumute, denn so hatte ich mir immer einen Kriegsschauplatz vorgestellt. Das Silvesterfeuerwerk gemahnte an feindlichen Beschuss, die Flak schien wiederauferstanden, was nun wirklich keiner will, und als eine verirrte Rakete über meinen Balkon schoss, schloss ich schnell die Fenster. Rakete auf dem Balkon, solange sie wieder abzieht und keine Schäden hinterlässt, ist noch einigermaßen erträglich. Rakete in der Wohnung wohl eher nicht so. Zum Glück war es wohl eine recht findige Rakete, die alsbald in irre anmutendem Zickzackkurs ihren Weg in den Garten nahm, wo sie sich in den Rasen bohrte, explodierte und in trotziger Verzweiflung ihren Sternenregen versprühte, dessen sie sich wohl lieber hoch am Himmel entledigt hätte. Fast bekam ich Mitgefühl, aber dann fiel mir ein, dass es sich um eine schnöde Silvesterrakete handelte und so viele von uns im Leben oft nicht das bekommen, was sie gerne wollen oder verdient hätten. Ha!

Wären es wenigstens nur Raketen gewesen! Die zischen nur hektisch durch die Gegend und explodieren – meist – in der Luft. Aber hier knallte es auch noch unentwegt ohrenbetäubend, und das Haus schien zu erzittern! Ich fragte mich, ob das, was in dieser Region als „Bergschäden“ an Häusern geführt wird, nicht vielmehr von den alljährlichen Silvesterbombardements herrühre. Es nähme nicht wunder, würden die Gebäude, durch die Detonationen des garantiert nicht in jedem Falle TÜV-geprüften und zulässigen Feuerwerks erschüttert, auf ganz anderem Wege Schaden nehmen und Risse bekommen …

Gegen ein Uhr trat eine kleine Feuerpause ein, die ich fälschlicherweise für das Ende des Spuks hielt. Zwei Minuten später wünschte ich, es wäre mit dem Geknalle weitergegangen, denn unten auf der Straße ertönte ein vielstimmiger … nein, nicht Gesang, das konnte man nicht als Singen bezeichnen. Vielmehr wurden bar jeglichen Treffers nur eines einzigen richtigen Tons von mehreren Menschen (?) Lieder intoniert, die sehr entfernt an bekannte solche erinnerten – nur völlig grotesk und entstellt. Es erinnerte auch an die Situation nach Schalkespielen, egal, ob gewonnen oder verloren. Da wird auch immer völlig disharmonisch gegrölt. Nur war es hier noch schlimmer, was ich bis dato für unmöglich gehalten hatte, und ich fragte mich wirklich, ob das Menschen seien, die diese bizarren Töne absonderten. Auch fragte ich mich, welche Alkoholsorte und wieviel davon derart horrormäßige Reaktionen hervorrufe. Doch ich fragte mich nicht lange, denn das bizarre und angsteinflößende Geräusch aus verschiedenen Kehlen brach plötzlich ab, und man hörte eine Art Solo: Einer der Chorgesellen kotzte direkt vor meinem Haus auf den Gehweg, und das unter den begeisterten Anfeuerungen seiner Brüder im (Wein-)Geiste. Kurz darauf setzte das Bombardement wieder ein und dauerte bis etwa 1:30 h.

Ich bin dann ins Bett gegangen, aber vereinzelte Spätzünder ließen mich immer wieder hochschrecken.

Mein Vorsatz fürs Jahr 2015 und weitere Jahre: Nie wieder Silvester in Gelsenkirchen.

Und wie ich gestern in der Zeitung las, hat es wohl hier in meinem Stadtteil Neujahr zwei Hausbrände gegeben, beide sehr drastisch. Mich wundert das nicht. Schließlich lebe ich offenbar in einem Krisengebiet. Gut, dass ich das nun auch endlich weiß.

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