Kleine Dinge

Es gibt Tage, an denen irgendwie alles schräg und falsch läuft. Es regnet, hagelt – und dazu Sturmböen. Gestern hätte mein Regenschirm mich auf dem kurzen Stück von der Straßenbahnhaltestelle bis zu meiner Wohnung noch beinahe verstümmelt. Als hätte ich in den letzten Tagen nicht schon genug Stress gehabt!

Nein, auf dem kurzen Stück von der Haltestelle bis ins traute Heim musste sich auch noch mein Schirm im wahrsten Sinne des Wortes gegen mich wenden! Ich kämpfte gegen besagte Sturmböen und sintflutartigen Regen an, und das mit einem kleinen Schirm – David gegen Goliath -, auf dem in allen Grundfarben der Schriftzug: „Don’t worry, be happy!“ steht. Das Unangenehme an Sturm und böigem Wind ist, dass man bisweilen in eine Art Luftloch gerät, ergo in eine Flaute. Man wähnt sich kurzzeitig in Sicherheit – und da haut es einem auch schon den Schirm um die Ohren, da die nächste Bö umso heftiger und in diesem Moment unerwartet von der Seite, von oben, eigentlich aus allen Richtungen über einen hereinbricht. So ging es mir gestern nach einem weiteren Tag voller Stress. Mein Schirm, genauer: dessen Stiel schlug mir mit voller Wucht neben das linke Auge – die Stelle ist jetzt noch leicht geschwollen, aber zum Glück habe ich kein Veilchen, denn sonst hätte eine meiner Kolleginnen ihre helle Freude und würde sicherlich das Gerücht verbreiten, ich sei verprügelt worden. Der Kollegin, sie ist bekannt dafür, gebricht es an einem eigenen, zufriedenen Leben, und sie liebt es, Gerüchte zu verbreiten. Ich wollte dazu aber nicht unbedingt über Gebühr beitragen, und so war ich froh, dass mein Schirm mich nicht allzu sehr gebrandmarkt hat. Aber es war gut, dass mir im Moment der Schirmattacke und auch kurz danach niemand begegnete, der irgendwelche Anmerkungen, Einwände, Bedenken hatte – ich weiß nicht, was dann passiert wäre. Ich glaube fast, meine normalerweise sehr ruhige, beherrschte und gelassene Art wäre mir verlustig gegangen.

Der Tag heute war nicht erheblich besser. Gegen Mittag verließ ich mein Büro, um in eine der Nachbarstädte zu fahren, um dort an der Uni meine Seminare zu leiten. Der Bus fuhr pünktlich, die Straßenbahn, in die ich umsteigen musste, war auch zur per Fahrplan angegebenen Abfahrtszeit bereit – ich war höchst zufrieden. Das ist ja auch nicht selbstverständlich. Als Pendler ist man Kummer gewohnt.

Ich ergatterte sogar einen Einzelsitzplatz. Ich bin normalerweise kein unkommunikativer Mensch, aber in öffentlichen Verkehrsmitteln sitze ich aufgrund diverser Erfahrungen doch lieber allein, denn  einmal war mein Sitznachbar dauernd eingenickt und hatte dabei seinen Kopf mit bemerkenswert fettigen Haaren stets vertrauensvoll an meine Schulter geschmiegt – und ich hatte eine neue Winterjacke an! Ein weiteres Mal hatte sich auf einem Zweiersitzplatz ein Mensch neben mich gesetzt, dem die Benutzung fließenden Wassers und Seife völlig unbekannt zu sein schien, ebenso die Institution Zahnbürste nebst –pasta. Bah! Ich erinnere mich, fast in die Innenwand der Straßenbahn hineingekrochen zu sein, um dem Hautgoût zu entkommen – es war einfach nur ekelhaft. Dauertelefonierende Sitzpartner sind auch nicht sonderlich erbaulich, speziell dann, wenn jeder Satz, den sie absondern, mit: „Also, ich sag mal so …“ beginnt und sie sich – noch schlimmer – dann während des sehr emotional geführten Telefonats derart ereifern, dass sie Verbalinjurien ausstoßen und sich derart echauffieren, dass auch ihre Gestik ihrer emotionalen Grundstimmung  Folge leistet und man ständig Gefahr läuft, einen Schlag in die Fresse zu bekommen. (Excuse my French!) Auch sind Sitzpartner, die bereits morgens um 9 eine veritable Fahne vor sich hertragen und einen mit bemerkenswerten Zahnlücken bewehrt angrinsen und gleich die nächste Flasche Bier aus dem schmuddeligen Rucksack ziehen, die sie mit den verbliebenen Zähnen öffnen, während sie sich mit ihrem gleichgearteten Kumpel darüber unterhalten, dass ja ein anderer guter Kumpel neulich schon wieder jemanden niedergestochen habe, der noch jetzt im Krankenhaus mit dem Tode ringe. Aber Schwund sei halt überall. Dummerweise habe der ansonsten total gutmütige Messerstecher, der ja bisher nur dreimal wegen gefährlicher Körperverletzung und einmal wegen Totschlags im Bau saß, nur kurz nach der diesmaligen Entlassung aus selbiger Institution die Beherrschung verloren, aber völlig zu Recht, weil der Kontrahent „Du Blödmannsgehilfe!“ zu ihm gesagt habe. Oder war es „Gesichtselfmeter“? Und das, als der Ex-Knacki (in spe) dessen Freundin angefasst habe – soll sich nicht so anstellen, die doofe Ische auch nicht, die gleich Mord und Brand geschrien hatte. Auf alle Fälle total ungerecht, dass „den Jupp“ nun schon wieder eingefahren sei – zum Glück aber habe er einen guten Verteidiger, der ihn auch schon die letzten Male schnell aus dem Knast geholt habe, und der fast Abgestochene sei das alles ja wohl „selbst in Schuld“. Nee, danke. Ich sitze doch lieber einzeln.

Heute gab es auf der Fahrt gen Hauptbahnhof eine Türstörung. Eine bis dato funktionsfähige Tür der Tram weigerte sich, sich zu öffnen, und der Fahrer riegelte diese mit einem Schlüssel ab. Ein anderer Mitarbeiter der Straßenbahngesellschaft, den ich von verschiedenen Fahrscheinkontrollen kenne, klebte während der Weiterfahrt zwei Schilder an die Tür, eines nach innen, das andere nach außen gerichtet, die – eher piktogrammartig und ohne Worte – sehr deutlich anzeigten, dass die Tür unbenutzbar sei. Sicherheitshalber blieb er jedoch dahinter stehen.

Und das war auch gut so. Denn an allen folgenden Haltestellen standen Leute vor just der unbenutzbaren Tür, wedelten mit ihren Händen vor den Bewegungsmeldern außen, die im Normalfalle den Türöffnungsantrieb auslösen, während von innen der Straßenbahn-Mitarbeiter heftig gestikulierte, sie sollten die nächste Tür benutzen. Doch die Leute starrten stumm auf der ganzen Tür herum … Sie starrten vor allem stupide. Einige meckerten, das sei wieder typisch für diese Verkehrsgesellschaft. Keiner ging einfach zur nächsten Tür. Wie die Schafe standen und starrten bzw. blökten sie herum. Bis dann doch der Groschen fiel …

Nach der dritten Haltestelle in Folge, da dies so lief, platzte dem Straßenbahnmenschen der Kragen. Er regte sich lautstark auf: „Mein Gott – die Mehrheit der Menschen ist einfach nur doof! Es könnte hinter dieser Tür brennen, und dennoch würden sie genau hier einsteigen wollen! Ich hasse meinen Job! Es sind so viele Doofe unterwegs!“

Vor meinem geistigen Auge entstand das von ihm heraufbeschworene Szenario, und angesichts der dumpf daherblickenden Menschen, die direkt vor den Klebeschildern der sich nicht öffnenden Tür standen und weder wankten, noch wichen, brach ich in helles Gelächter aus.

Der Straßenbahn-Mann freute sich: „Wenigstens eine hier, die fröhlich ist und lacht! Sie hätten garantiert auch sofort kapiert, dass Sie hier nicht einsteigen können.“ – „Ich hätte sicherlich nicht so lange an dieser Tür ausgeharrt, das stimmt. Und ich lache, weil Sie das so lustig formuliert haben. Sie haben ja recht!“

Da lachte er auch, und als wir beide am Hauptbahnhof ausstiegen, wünschte ich ihm noch einen schönen Tag. Er meinte: „Schauen wir mal. Aber vielen Dank für Ihr Lachen – das hat mir jetzt den Tag gerettet.“ – „Und Ihr Kommentar mir meinen.“

Es sind manchmal die kleinen Dinge, die einen blöden Tag retten oder zumindest erhellen können. 🙂

Aeger sum – ergo sum!

„Ich bin krank – also bin ich!“ Übertrieben gesprochen. Und ich will mich hier keineswegs über ernsthaft Erkrankte lustig machen, denn diese Menschen haben wirklich zu kämpfen, nicht nur mit ihrer Krankheit, sondern nicht selten auch um Anerkennung ihrer Krankheit, die bisweilen nicht als solche akzeptiert wird, bisweilen sogar belächelt, wenn nicht gar diskriminierend bewertet wird. Das ist hier nicht mein Thema, denn darüber könnte ich gar nicht in dieser Weise schreiben. Denn das ist ein viel zu ernstes und seriöses Ärgernis. Ich will hier aber gar nicht „seriös“ schreiben. Wollte ich dies, würde ich wohl ein politisches Blog betreiben.

Mir geht es eher um Menschen, die sich über ihre Zipperlein definieren. Auch das ist noch nicht ganz korrekt definiert: Es geht um Phänomene, die sich mehr im Kopf abspielen. Ich wäre sicherlich eine der Letzten, die psychische Befindlichkeiten ernsthafter Natur nicht ernstnähmen, auch das ist hier nicht gemeint, nein, zumal die wirklich Betroffenen zumeist wirkliche Hilfe suchen und in Anspruch nehmen. Mir geht es um etwas ganz anderes.

Als ich noch klein war, entdeckte ein Arzt, dass ich drei Nieren hätte. Ich hatte eine Nierenbeckenentzündung erlitten – ich erinnere mich ungern daran -, und da musste ich zum Urologen, der mich auch sogleich diagnosetechnisch auf den Kopf stellte. Neben Untersuchungen einer gewissen Körperflüssigkeit – huuiii, so viele Leukozyten! – spielten natürlich in erster Linie auch radiologische Untersuchungen eine große Rolle (und falls bei Euch mal ein Urologe einen „Refluxtest“ machen will: Zähne zusammenbeißen und viel Selbstbeherrschung mitbringen, wenn man über einen Blasenkatheter Eure Blase mit Kontrastmittel bis zum gefühlten Platzen des genannten Hohlkörpers vollpumpt, um danach zu röntgen). Schon beim ersten Röntgen fiel auf, dass ich da eine kleine Unregelmäßigkeit mitbrachte: statt zweien gleich drei Nieren, wenn auch die dritte nur halb so groß ist wie die beiden regulären, sich aber arbeitstechnisch wohl richtig ins Zeug legt, was nicht immer so vorteilhaft ist. Denn der Urologe meinte, ich sei aufgrund dieser Anomalie in diesem Bereich empfänglicher und empfindlicher hinsichtlich Infektionen. Ergo wurde ich mit wollener Unterwäsche gequält, gut gemeint, aber nicht immer schön. Sitzen auf kaltem Untergrund? Nein! Niemals! Auch im Sommer nicht sorglos sein. Das einzig Gute war ein Attest für den von mir gehassten Schwimmunterricht in der Schule. Privat schwimme ich gern, wenn auch nicht besonders gut, aber ich sollte laut Verdikt des Urologen nicht länger als eine Viertelstunde am Stück im Wasser bleiben – und dafür lohnte der Aufwand in der Schule nicht. Zum Ausgleich sollte ich täglich möglichst etwa drei Liter Flüssigkeit – Kaffee trank ich damals noch nicht, Milch sollte ich auch nicht trinken – zu mir nehmen, was speziell in der kalten Jahreszeit gar nicht so einfach ist. Ich fand das alles Scheiße und wäre nie auf die Idee gekommen, dass etwas, das einen beeinträchtigt, toll sei und die Persönlichkeit erst so richtig ausmache oder einen aufwerte. Es gibt Menschen, die das anders sehen.

Als ich neulich beim Bäcker ein Brot kaufen wollte, war vor mir eine Mutter mit einem kleinen Mädchen an der Reihe. Die Mutter verlangte ein bestimmtes Brot, und das kleine Mädchen, vielleicht vier Jahre alt, schrie dazwischen: „Ist da Milch drin? Ich bin nämlich intolerant!“ Ich fand es toll von dem kleinen Mädchen, zuzugeben, dass Toleranz nicht zu seinen Stärken gehöre, zumal wir heutzutage ja alle wahnsinnig tolerant sind oder sein sollen, aber da sprach die Mutter bereits wohlfeilen Mundes zur verständnislos dreinblickenden Bäckereifachverkäuferin: „Ja, die kleine Edda-Ambrosia ist laktoseintolerant.“ Und sie drehte sich beifallheischend zu den hinter ihr Wartenden um, während Edda-Ambrosia die Verkäuferin fragte, ob diese auch intolerant sei. Die stand allerdings – ich kann es ihr nicht verdenken – in gewisser Weise stupéfait und offenen Mundes hinter dem Tresen und verweigerte jegliche Antwort. Daraufhin fragte Edda-Ambrosia mich, und ich meinte lächelnd: „Nein, ich bin nicht intolerant. Jedenfalls nicht laktosemäßig.“ Die Mutter starrte mich an und meinte: „Dann sind Sie aber nicht der Norm entsprechend, denn im Grunde ist es normal, laktoseintolerant zu sein.“ Ich lächelte huldvoll und gab zurück: „In gewisser Weise entsprach ich noch nie der Norm.“ Und ich fügte wowereitisierend hinzu: „Und das ist auch gut so.“ Die Mutter würdigte mich daraufhin keines Blickes mehr und zog Edda-Ambrosia schnell von mir weg. Gut, dass ich nicht noch erwähnt hatte, dass ich rauche, überdies nicht an Gott glaube und auch niemals bei Vollmond und umherwabernden Nebelschleiern in einer Selbsterfahrungsgruppe besonders feinsinniger Frauen auf dem Blocksberg gemeinschaftlich menstruiert habe. Ich habe nicht einmal einen Traumfänger über meinem Bett!

Mir ist klar, dass es Laktoseintoleranz gibt, und das ist ganz sicher auch nicht angenehm. Ich selber bin vor Jahren mal dahingehend getestet worden, war aber höchst tolerant, was mich beruhigte, denn ich esse gern Rohmilchkäse, und der hätte mir doch sehr gefehlt! Mich irritiert einfach nur dieser explosionsartige Anstieg Laktoseintoleranter in den letzten Jahren, und ich betrachte mit Argwohn, dass in einem der Supermärkte, in denen ich einzukaufen pflege, inzwischen fast mehr laktosefreie Molkereiprodukte zu dreifach höherem Preis angeboten werden als laktosehaltige. Dass ein kleines, vierjähriges Mädchen das so hübsch beim Bäcker formulieren konnte, irritierte mich kaum. Ich selber hatte als etwa gleichaltriges Kind auch das Wort „Drehstromasynchronmaschine“ fehlerlos artikulieren können, was meinen Vater bis kurz nach meiner Einschulung und den ersten Mathestunden der Hoffnung anheimfallen ließ, ich könne in seine Fußstapfen treten und Elektroingenieurin werden. Dabei war ich einfach nur sprachbegabt, und ich hörte das Wort ja auch so oft.

Mir ist auch bekannt, dass Allergien bisweilen im Handumdrehen und von einem Tag auf den anderen auftreten können. Ich selber hatte anno 2001 im Frühjahr plötzlich ganz seltsame Beschwerden: Von einem Tag auf den anderen brannten meine Augen, tränten, und an das Tragen meiner Kontaktlinsen war nicht im Entferntesten zu denken – zwei Wochen lang. Ich wusste gar nicht, was das war, musste aber einer anderen Angelegenheit wegen zu meinem Hausarzt, der mich schon mit den Worten: „Sie sehen ja heute ganz anders aus – seit wann tragen Sie eine Brille, und warum sind Ihre Augen so rot?“ begrüßte. Der erklärte mir dann, ich hätte wohl einen Heuschnupfen-Schub. Heuschnupfen? Ich? Nie gehabt und immer die armen Irren bemitleidet, die darunter litten, und das wirklich. Die, die ich kannte, hatten aber zumindest keine Augenprobleme gehabt, nur enervierend oft geniest, einen hohen Papiertaschentuchverbrauch zu beklagen gehabt und unter anderen Problemen gelitten – bei mir schlug es auf die Augen. Immerhin nur zwei Wochen lang, dann war das Ganze wie abgeschnitten vorbei.

Ich will mich also keineswegs über echte Allergieopfer lustig machen. Aber ich habe speziell im Büro bis zum Ausscheiden meines lieben Kollegen so manche Allergie mitbekommen, die dazu diente, die Persönlichkeit meines Kollegen aufzuwerten, aufzuhübschen. Einzig sein Heuschnupfen war auch für andere erkennbar echt, und darüber will ich wirklich nichts sagen – das ist nämlich wirklich ätzend.

Aber ich lernte so viele neue Allergien kennen! Wasseradern waren ganz gefährlich, aber davon berichtete ich ja schon. Auch hatte er eine Allergie gegen Leitungswasser in der Kaffeemaschine, es sei denn, man hatte vor Befüllen des Wassertanks das Leitungswasser aus dem Hahn schon fünf bis zehn Minuten völlig ungenutzt und damit nutzlos in den Abfluss laufen lassen. Er erklärte dies mit der Existenz der gefährlichen, alten Bleirohre. Das Gebäude, in dem wir arbeiten, ist in den ausgehenden Neunzigern des letzten Jahrhunderts erbaut worden, da schon eine 19 davor stand, keine 18. Auch ertrug er seinen Arbeitsplatzdrucker nicht mehr, nachdem er von der Existenz gesundheitsgefährdenden Toners erfahren hatte und seitdem dauernd unter einem Kribbeln in den Fingerspitzen litt (vorher niemals). Und er litt grässlich unter Elektrosmog und musste dringend eine Funktastatur – ja, genau! – für seinen Arbeitsplatzrechner haben, ebenso eine Funkmaus. Ich sagte dazu lieber nichts, zumal es mir immer diebische Freude bereitete, waren die Akkus in Tastatur und/oder Maus mal wieder entladen und die Gerätschaften damit vorübergehend unbrauchbar, wenn er fluchend auf die Tastatur einschlug oder die Maus auf den Tisch knallte und dann mit Schaum vor dem Mund unseren SysAdmin anrief. Noch schöner war allerdings, reinigte er seine Tastatur. Da er einmal hatte feststellen müssen, dass wie durch ein Wunder Termine gelöscht oder unfreiwillig andere Dinge auf dem Bildschirm geschehen waren, als er bei eingeschaltetem Rechner grobmotorisch mit einem Wischlappen die Tasten abgewischt und der zu Hilfe geeilte SysAdmin erklärt hatte, die Tastatur reagiere eben auf so etwas, wenn sie in Reichweite sei, sah man ihn fortan immer mit Keyboard und Wischlappen aus dem Raum rennen und sich auf der Galerie etwa dreißig Meter weit vom Rechner entfernt reinigend an der Tastatur zu schaffen machen. Ich sah das immer mit einer gewissen Faszination, verstand zunächst aber den Zweck der Übung nicht, und so fragte ich ihn: „Warum rennst du immer mit dem Keyboard auf die Galerie, um es zu putzen?“ Herablassend erklärte er mir, dass ja ansonsten noch Empfang da sei und er bei seinen Reinigungsarbeiten gegebenenfalls an seinem Rechner Veränderungen vornähme. Ich verstand zunächst gar nicht, was er meinte. Dann fiel der Groschen, und ich fragte: „Warum nimmst du nicht einfach die Akkus raus, wenn du das Ding putzen willst? Oder machst es sauber, wenn du den Rechner schon heruntergefahren hast?“ Nein! Nach Herunterfahren des Rechners war Feierabend, da kann man doch nicht mehr putzen! Lieber rennt man auf die Galerie!

Das zu Elektrosmog und Funktastaturen. Richtig schlimm und nervend wurde es, als er seinen Heilpraktiker nicht mehr aufsuchte und stattdessen zu einer Homöopathin gewechselt war. „Die ist viel besser und hat viel mehr Ahnung! Sie hat mich auch gleich als besonders sensiblen Menschen erkannt – sie meinte, das habe sie mir schon gleich angesehen. Sie arbeitet sehr mit den Augen, weißt du.“ Klar. Ich arbeite auch mit den Augen. Aber offenbar sehe ich irgendwie anders. Zumindest sehe ich andere Dinge.

Kaum zweimal bei der Homöo-„Patin“ gewesen, wurden sämtliche Giftstoffe aus meines Kollegen Körper und Geist „ausgeleitet“ – ein Wunder, dass ich weiterhin in einem Büro mit ihm sitzen durfte! Er litt in dieser Zeit sehr, was er auch stundenlang mit seinen Vertrauenspersonen – Menschen, denen ich nicht einmal das Schwarze unterm Fingernagel anvertrauen würde – telefonisch während der Arbeitszeit diskutierte und dabei vielfach stöhnte.

Nach der „Ausleitung“ wurde es richtig grotesk, denn mein Kollege verkündete: „Ich vertrage keine ‚E-s‘, hat meine Homöopathin herausgefunden! Die ist wirklich gut! Und ich habe mich immer gefragt, warum ich manchmal so einen Ausschlag habe! Eindeutig liegt das an den E-s!“ (Nun, zu dem Thema fielen mir viele Ursachen und Auslöser ein, speziell aber ein gewisser sorgloser Umgang mit Ibuprofen-Tabletten, die der Kollege bei geringen Anflügen von Kopfschmerz bereits frühmorgens einwarf und die Dosis über Tag steigerte, wenn der Schmerz nicht binnen zehn Minuten verschwunden war, da er von anderen als homöopathischen oder naturheilkundlichen Mitteln stets sofortige Wirkung verlangt, während er bei den erstgenannten eine derartige Geduld hinsichtlich des Wartens auf Wirkung an den Tag legt, dass es beinahe rührend ist. Wandte ich ein, das könne nicht gut sein, erklärte er mir nachsichtig, das könne sich die böse Pharmaindustrie ja gar nicht erlauben, dass das böse Folgen haben könne – das müssten die doch explizit klarmachen! Ich verwies an den Beipackzettel, aber so etwas lese er erst gar nicht, war des Kollegen abfällige Reaktion. Dann eben nicht, liebe Tante, dachte ich.) Schuld an seinen vielen Allergien hatten allein die bösen „E-s“, ergo Farb-, Konservierungs- und andere Stoffe, die mit „E“ und einer Ordnungsnummer gekennzeichnet werden. Ich habe inzwischen eine Allergie gegen den Vokal E gebildet, zumal es von morgens bis mittags dauerte, bis mein Kollege verstand, dass ich ihn auf den Arm genommen hatte, als er gemeint hatte, er koche sich einen Tee und ich sagte: „Darfst du das denn? Tee? Da sind zwei E-s drin!“

Mein Kollege litt all die neun Jahre, die ich in einem Büro mit ihm saß, ganz furchtbar unter den schrecklichsten Allergien, Allergien, die noch kein menschliches Auge geblickt hatte, aber ich weiß nun, dass es eine Kugelschreiberallergie gibt, da man doch mit Bleistift viel besser und nachhaltiger schreiben kann, eine Allergie gegen bestimmte Büroklammern, nicht biologisch abbaubare Textmarker, Chefs, Teppichboden und gegen alles, was digital arbeitet … Und: Arbeit, wenn doch eine Pause viel schöner wäre. Darüber hinaus aber auch Allergien gegen alles und jedes, was nicht ansatzweise so gut ins Weltbild passt wie das, was vielleicht wirklich störende Auswirkungen haben könnte.

In jedem Falle fühlte sich mein Kollege immer gleich erheblich bedeutender, hatte er eine neue Allergie an sich entdeckt – da wuchs er gleich um mindestens fünf Zentimeter. Und so – zumindest drängt sich mir dieser Eindruck bisweilen auf – scheint es auch anderen Leuten zu gehen. Wozu Sprüche wie: „Cogito, ergo sum!“ bemühen, wenn es auch „Aeger sum, ergo sum!“ gibt. Macht weniger Mühe und viel mehr Spaß. Und die Betroffenen werden auch noch bedauert, denn sie können ja gar nichts dafür – eine echte Win-win-Situation, denn auch das nicht durch Allergien betroffene Gegenüber wird viel feinfühliger und lernt, was für Allergien es so gebe.

Meine Allergien halten sich im Rahmen. Ich habe nur eine Allergie gegen die Erwähnung von Allergien gebildet, als seien diese eine persönliche Auszeichnung und Glanzleistung.

Und gegen zu lange Glossen. Die nächste wird kürzer, sonst droht mir ein Allergieschub. Aber es musste sein – ich arbeite nach Ausscheiden des Kollegen quasi Altlasten ab. Die müssen weg, sonst droht unter Umständen eine psychosomatische Reaktion. 😉

Leb wohl, Kollege!

Es ist vollbracht: Kollege Birger, der hier in mehreren Geschichten vorkam, hat seinen Arbeitsplatz verlassen und sich zu neuen Ufern aufgemacht. Zwar beim selben Arbeitgeber, aber an einem anderen Standort befindet sich der Ort seines künftigen Wirkens und Schaffens. Wollen wir für unseren feinfühligen Kollegen hoffen, dass er dort finde, was er an seinem bisherigen Arbeitsplatz in den letzten Jahren so missen musste: Freizügigkeit und das Recht, zu tun, was er wolle, und das zu jeder von ihm gewünschten Zeit. Und dafür auch noch Lob und Anerkennung von Chef und Kollegen. Zwei Stunden andauernde Mittagspausen, ohne sich auszustempeln, zum Beispiel. Stundenlange Telefonate mit seiner Frau, seinem besten Freund oder seinen Esoterikgenossen, tiefschürfende Telefonate, bei deren Inhalten sich nicht selten jedem auch nur in Ansätzen vernunftbegabten Menschen die Fußnägel hoch- und wieder zurückrollen, und das wieder und wieder. Urlaub zur Unzeit. Kurz vor Semesterende im Juni den echten Jahresurlaub, drei Wochen lang, während die zurückgebliebenen Kolleginnen in dieser Hochzeit an einer Hochschule auch noch des Kollegen Arbeit stemmen müssen. Kurz vor Weihnachten – ähnliches Szenario, denn vor Jahresende müssen noch alle ausstehenden Prozesse beendet werden – auch noch einmal Urlaub, denn Kollege Birger geht so gern mit seiner Frau auf Weihnachtsmärkte. Das muss man doch verstehen, oder nicht? Es ist zwar nicht so, dass die Kolleginnen nicht auch gerne solche Märkte besuchten, aber das ist doch noch etwas anderes, oder?

Zwischendurch und so, dass man die Kolleginnen hinderte, ihrerseits mal drei Wochen am Stück zu verurlauben, musste auch immer wieder Urlaub sein, und war dieser aufgebraucht, musste der „Bildungsurlaub“ herhalten, finanziert vom Arbeitgeber. Da machte Birger gern so schöne Kurse an der VHS wie „Malen für Burnout-Gefährdete“, „Yoga gegen Stress am Arbeitsplatz“ oder „Bachblüten selbstgemacht gegen den Stress zwischen den Pausen“. Konnte er den Bildungsurlaub in einem Jahr nicht nehmen, ließ er ihn aufs Folgejahr übertragen: Hurra, gleich zehn Urlaubstage zusätzlich! Denn diese Kurse finden zwar jeden Tag statt, aber nur etwa drei Stunden am Vormittag – der Rest ist fra-hei! Glück für Birger.

Kollegin Lydia und ich hätten uns – wir sind Rechtshänderinnen – eher den rechten Arm abgehackt, als Bildungsurlaub zu beantragen. Manch einer mag nun argumentieren: „Selber schuld.“ Aber uns reichten die Fortbildungen, die uns von unserem Arbeitgeber willig gewährt werden. Die nahm Birger überdies in Anspruch … Und beim kleinsten Niesen war er gleich zwei Wochen krankgeschrieben, da seine Ärztin wohl recht freigebig ist, was Krankschreibungen anbelangt. Vielleicht ist sie auch genauso verr…, ääh, umsichtig wie er.

Gestern hatte ich meinen ersten Arbeitstag im Büro nach dem Weihnachtsurlaub. Da Birger nun weg und noch kein Nachfolger bzw. Nachfolgerin am Platze ist, muss ich nun für zwei arbeiten, und das als Teilzeitkraft. Aber das bin ich bei den vielen Fehlzeiten Birgers ja gewohnt. Nur gab es doch einige Unterschiede. Denn Birger hat in den zwei Arbeitstagen vor Weihnachten, als Lydia und ich schon Urlaub hatten, ganze Arbeit geleistet. Zwar hat er uns sehr unangenehme Vorgänge unerledigt hinterlassen, und das in einer Mappe, auf der: „Noch nicht erledigt!“ steht, und das von meiner Hand geschrieben. Denn diese Vorgänge hatte ich vor Weihnachten während Birgers Weihnachtsmarkt-Urlaubs, der eine ganze Woche vom fünfzehnten bis zum neunzehnten Dezember währte, noch nicht erledigen können. Ich ging davon aus, dass er sie erledigen würde, was ja im Grunde auch seine Aufgabe war.

Offenbar hat er mir aber – einmal mehr – übelgenommen, dass ich während seiner Abwesenheit nicht alles hatte erledigen können, und da für ihn seit jeher die Parole: „Nach mir die Sintflut!“ gegolten hat, hat er mir alles unverändert hinterlassen. Vielen Dank, Birger!

Aber ich darf nicht undankbar sein, denn anderweitig hat er klar Schiff gemacht. Als mich gestern der SysAdmin anrief, da wir Störungen mit dem Mailserver hatten, und mir tausenderlei Fakten um die Ohren haute, die ich nicht alle behalten konnte – ich bin keine Informatikerin -, wollte ich mir Notizen machen, während er auf mich einsprach. Energisch zog ich die Schublade an dem Aktenbock auf, der unter Birgers ehemaligem Schreibtisch steht, in der sich das Papier befindet. Beziehungsweise: befand. Gähnende Leere empfing mich – kein einziges Blatt Papier! Nun ja, kein Problem, dann schnappt man sich hilfsweise eines aus dem Kombi-Kopierer-Scanner! Das tat ich und zog dann energisch die Stifteschublade des Aktenbocks auf, griff blind hinein. Nichts! Kein einziger Stift – alles ratzekahl leer! Eine einzelne Büroklammer bohrte sich schmerzhaft in meinen suchenden Zeigefinger, das war alles.

Ungläubig zog ich alle weiteren Schubladen auf – alle leer!  Äääh? Musste man das verstehen? Hatte er alle Stifte, alles Papier und alle Mappen mitgenommen? Gibt es am anderen Standort unseres Arbeitgebers etwa kein Büromaterial? Hatte er ein persönliches Verhältnis esoterischer oder spiritueller Natur zu jeder einzelnen Büroklammer aufgebaut, bis auf die eine, die sich mir in den Finger gebohrt hatte? War die etwa böse gewesen und durfte nicht mit?

Da klingelte das Telefon: Kollegin Lydia war dran. Sie meinte: „Ich weiß nicht, ob es dir schon aufgefallen ist, aber in Birgers Schreibtisch ist überhaupt kein Büromaterial mehr. Wir sollten dringend welches beschaffen. Ich verstehe nicht so ganz, warum er alles entfernt hat – wollte er uns eins auswischen?“ – „Dir sicher nicht, vielleicht mir.“ – „Nee, wohl eher uns beiden. Ich habe gestern mit ihm telefoniert, an seinem neuen Arbeitsplatz. Er war total kurz angebunden, hat mir nicht einmal ein gutes Neues Jahr gewünscht.“ – „Dafür hat er uns eine Mappe hinterlassen, mit lauter unerledigten Dingen – ganz besonders unangenehmen.“ Lydia lachte und meinte: „Wundert dich das?“ – „Nein.“

Was lernen wir daraus? Manche setzen Prioritäten irgendwie anders als andere Menschen. Und ich überlege, Birger ein kleines Paket in die Diaspora zu schicken: inliegend Büroklammern, Textmarker, Kugelschreiber, Papier und weitere Dinge dieser Art. Und eine Rolle Klopapier – zur Sicherheit. Sicherlich freut er sich darüber.

Prost Neujahr! „Ali allein zu Haus“: Von Taschentüchern, vermeintlichen Kriegsschauplätzen und guten Vorsätzen

So, nun haben wir ihn alle geschafft: den Übergang zum Jahr 2015. Die einen sicherlich im Zuge (be-)rauschender Partys und Gelage und andere beim Fondue im Familienkreis. Es gibt aber auch noch eine weitere Variante: Silvester auf der Couch! Nein, ich meine damit nicht auf der Couch eines Psychotherapeuten, weil einen pünktlich zum Jahresende auch eine gewisse Endzeitstimmung überfiel, sondern Silvester auf der heimischen Couch, ganz allein. Für mich war das immer eine Horrorvorstellung, aber dieses Mal ging es nicht anders, denn pünktlich nach Weihnachten ereilte er mich: der grippale Infekt, vielfach fälschlicherweise als Grippe bezeichnet, aber – glaubt mir! – eine echte Virusgrippe ist etwas ganz anderes! Da liegt man noch flacher als flach, noch flacher als ich zwischen Weihnachten und dem letzten Wochenende. Und das war schon übel genug.

Es fing an mit Niesen. Dann kamen Halsschmerzen hinzu, nicht etwa „Halskratzen“, die sich schließlich in Husten auflösten, den ich tapfer mit „Gelomyrtol forte“ bekämpfte und dabei noch eine ganz charmante Nebenwirkung erzielte, denn ich musste häufig das Badezimmer aufsuchen, wo ich dann, auf einem gewissen Orte sitzend, längere Phasen verbrachte. Es gibt Medikamente, die gleich mehrfach von Nutzen sind. „Gelo“ hilft nicht nur beim Abhusten, nein – es vermittelt manchen Patienten mit fragilem und besonders sensiblem Verdauungsinterieur auch noch eine weitere Variante der Entschlackung und Loslösung von Angestautem. Auch so kann man Loslassen lernen.

Endlich war der Husten weg, ich atmete befreit auf und wähnte mich in Sicherheit. Doch dann kam sie! Genauer: die richtige Keule, und dies in Form einer Sinusitis, auch als Nasennebenhöhlenentzündung bekannt. Mein Schädel dröhnte aufs Possierlichste, als sei ich versehentlich gegen einen Gong gelaufen, die Region rechts und links der Nase schien zu pochen und reagierte extrem schmerzempfindlich, und binnen Sekunden und als hätte man einen Schalter umgelegt, entfloss meiner Nase Flüssigkeit, als habe sie sich das Motto der Stadt Aachen (auch als „Bad Aachen“ bekannt) zu eigen gemacht – ich sage nur: „Sprudelnde Vielfalt“. Gut, gesprudelt hat nichts, aber es lief und lief konstant, und ich fragte mich schon, ob ich wohl alsbald dehydriert und tot in meiner Wohnung aufgefunden werden würde, wenn das so weiterginge. Auch fragte ich mich, woher denn nur all diese Flüssigkeit komme, und da ich um einen Ausgleich bemüht war, schüttete ich rauhe Mengen Tees in mich hinein. Die Vorstellung, dehydriert und tot in meiner Wohnung aufgefunden zu werden, hatte mich nachhaltig aufgeschreckt.

Wochen zuvor hatte ich mich selbst gescholten, als ich eine Riesenpackung Papiertaschentücher gekauft hatte, denn, wie ich zu Hause feststellte, es waren noch diverse Päckchen vorrätig. Nun kam ich nicht umhin, mich für diesen intuitiv richtigen Kauf zu loben, denn ich habe sie fast alle verbraucht. Saß ich trotz Fiebers am Rechner, weil dauerndes Liegen auch nicht das Wahre ist, sah man zu des Rechners Rechten wie zur Linken zwar niemanden halbiert niedersinken (angeregt durch: „Schwäbische Kunde“ von Ludwig Uhland), sondern – au contraire – beängstigende Berge benutzter Taschentücher wachsen, die ich regelmäßig angewidert abtrug und im Hausmüll verklappte. Es schien wie ein Fass ohne Boden.

Dann kam Silvester, und es zeichnete sich ab, dass ich diesen Abend allein verbringen würde, da für anderes einfach zu schlapp. Morgens schleppte ich mich noch zum Einkaufen, denn die Vorräte waren in den Tagen zuvor doch erheblich abgetragen worden, und essen muss man ja, auch wenn man – dank schlimmer Erkältung – weder riechen, noch schmecken kann, was das Vergnügen deutlich schmälert. Ich kochte mir eine Rindfleischsuppe mit Sternchennudeln, neudeutsch (andere kennen dieses Neudeutsch auch unter dem Namen Italienisch) auch „stelline“ genannt – perfekt für Kranke.

Die Gegend, in der ich hier in dieser Ruhrgebietsstadt wohne, ist für gewöhnlich eine eher ruhige, recht spießig anmutende. Aber eben ruhig, und das ist ein echter Vorteil. Ich lebe inzwischen seit fast zehn Jahren wieder in dieser Stadt, in der ich bereits meine ersten vier Lebensjahre fristete, aber ich hatte – ungelogen – noch nie Silvester hier verbracht, ging aber davon aus, dass in meiner Straße sicherlich um Mitternacht maximal eine halbe Stunde lang geböllert und geknallt werden würde und sich die Anwohner dann wieder in ihre Wohnungen zurückziehen würden.

Ich kann nur sagen: Ich habe mich selten derart geirrt. Denn um Mitternacht setzte hier das Inferno ein! Normalerweise mag ich Silvesterfeuerwerk, und so hatte ich mich auch hier ans Fenster geschleppt, um zuzusehen. Aber binnen kürzester Zeit sah ich kaum noch etwas, da durch die Nonstop-Befeuerung alles im Handumdrehen in eine Art Nebel getaucht war. Nach einer halben Stunde war keineswegs Schluss. Im Gegenteil! Jetzt drehten die Feuerwerker erst richtig auf!

Ich bin in dieser Hinsicht kein ängstlicher Mensch, aber in dieser Situation – ich muss es zugeben – war mir bisweilen doch etwas bang zumute, denn so hatte ich mir immer einen Kriegsschauplatz vorgestellt. Das Silvesterfeuerwerk gemahnte an feindlichen Beschuss, die Flak schien wiederauferstanden, was nun wirklich keiner will, und als eine verirrte Rakete über meinen Balkon schoss, schloss ich schnell die Fenster. Rakete auf dem Balkon, solange sie wieder abzieht und keine Schäden hinterlässt, ist noch einigermaßen erträglich. Rakete in der Wohnung wohl eher nicht so. Zum Glück war es wohl eine recht findige Rakete, die alsbald in irre anmutendem Zickzackkurs ihren Weg in den Garten nahm, wo sie sich in den Rasen bohrte, explodierte und in trotziger Verzweiflung ihren Sternenregen versprühte, dessen sie sich wohl lieber hoch am Himmel entledigt hätte. Fast bekam ich Mitgefühl, aber dann fiel mir ein, dass es sich um eine schnöde Silvesterrakete handelte und so viele von uns im Leben oft nicht das bekommen, was sie gerne wollen oder verdient hätten. Ha!

Wären es wenigstens nur Raketen gewesen! Die zischen nur hektisch durch die Gegend und explodieren – meist – in der Luft. Aber hier knallte es auch noch unentwegt ohrenbetäubend, und das Haus schien zu erzittern! Ich fragte mich, ob das, was in dieser Region als „Bergschäden“ an Häusern geführt wird, nicht vielmehr von den alljährlichen Silvesterbombardements herrühre. Es nähme nicht wunder, würden die Gebäude, durch die Detonationen des garantiert nicht in jedem Falle TÜV-geprüften und zulässigen Feuerwerks erschüttert, auf ganz anderem Wege Schaden nehmen und Risse bekommen …

Gegen ein Uhr trat eine kleine Feuerpause ein, die ich fälschlicherweise für das Ende des Spuks hielt. Zwei Minuten später wünschte ich, es wäre mit dem Geknalle weitergegangen, denn unten auf der Straße ertönte ein vielstimmiger … nein, nicht Gesang, das konnte man nicht als Singen bezeichnen. Vielmehr wurden bar jeglichen Treffers nur eines einzigen richtigen Tons von mehreren Menschen (?) Lieder intoniert, die sehr entfernt an bekannte solche erinnerten – nur völlig grotesk und entstellt. Es erinnerte auch an die Situation nach Schalkespielen, egal, ob gewonnen oder verloren. Da wird auch immer völlig disharmonisch gegrölt. Nur war es hier noch schlimmer, was ich bis dato für unmöglich gehalten hatte, und ich fragte mich wirklich, ob das Menschen seien, die diese bizarren Töne absonderten. Auch fragte ich mich, welche Alkoholsorte und wieviel davon derart horrormäßige Reaktionen hervorrufe. Doch ich fragte mich nicht lange, denn das bizarre und angsteinflößende Geräusch aus verschiedenen Kehlen brach plötzlich ab, und man hörte eine Art Solo: Einer der Chorgesellen kotzte direkt vor meinem Haus auf den Gehweg, und das unter den begeisterten Anfeuerungen seiner Brüder im (Wein-)Geiste. Kurz darauf setzte das Bombardement wieder ein und dauerte bis etwa 1:30 h.

Ich bin dann ins Bett gegangen, aber vereinzelte Spätzünder ließen mich immer wieder hochschrecken.

Mein Vorsatz fürs Jahr 2015 und weitere Jahre: Nie wieder Silvester in Gelsenkirchen.

Und wie ich gestern in der Zeitung las, hat es wohl hier in meinem Stadtteil Neujahr zwei Hausbrände gegeben, beide sehr drastisch. Mich wundert das nicht. Schließlich lebe ich offenbar in einem Krisengebiet. Gut, dass ich das nun auch endlich weiß.