Heute früh hatte ich das, was ich besonders liebe: einen Termin beim Zahnarzt. Nun bin ich ja kein seltener Gast dort, da ich zwar nicht die mathematisch-naturwissenschaftliche Begabung meines Vaters geerbt habe, aber immerhin doch in seine dentalen Fußstapfen getreten bin – ein Hoch auf die Genetik! Die mathematisch-naturwissenschaftliche Begabung wäre mir allerdings lieber gewesen, denn dann wäre ich jetzt wohl auch Ingenieurin und müsste mir keine Tiraden über „Laberfächer“ anhören. So bin ich Anglistin, nicht etwa MINT-Absolventin mit schlechter Zahnqualität. Ein fachlicher wie auch monetärer Unterschied – als Ingenieurin müsste ich mir um die Finanzierung meiner Beißer weniger Gedanken machen.
Trotz gründlicher Dentalhygiene sind bei mir immer irgendwelche Baustellen zu beklagen. Immerhin kann ich behaupten, dass meine Zähne nie schöner aussahen als seit dem Zeitpunkt, da die meisten von ihnen abgeschliffen und überkront oder überbrückt worden sind. Ich habe sogar ein Implantat, und wäre ich Beamtin, damit beihilfeberechtigt und das ganze Procedere nicht so aufwendig und der Erfolg stets zweifelhaft, würde ich mir peu à peu und ohne zu zögern sämtliche Zähne ziehen und Implantate installieren lassen.
Vor zahnärztlichen Behandlungen ist mir nicht bange, denn ich kenne mich damit aus und bin Kummer gewohnt. Man könnte mir – natürlich mit Anästhesie – wohl sicherlich den halben Kiefer auffräsen oder aufstemmen, und ich würde nicht einmal mit der Wimper zucken. Extraktionen von Molaren und nachfolgende Krankschreibungen, wie ich das von Kollegen kenne? Nö. Sitze ich auch lässig auf einer Backe ab und gehe danach mit tamponierter Wunde im Mund zur Arbeit, wo ich von der gesamten Belegschaft angesehen werde wie das bis zu meinem Erscheinen noch nicht vorhanden gewesene Achte Weltwunder (ich arbeite im öffentlichen Dienst). Wurzelbehandlung? Lässig. Wurzelspitzenresektion? Naja, nicht ganz so lässig, aber machbar – ich bin ja nicht aus Zucker.
Erstaunlicherweise ist die einzige Behandlung beim Zahnarzt, auf die ich mit echter Panik und teils übergriffig reagiere, wenn auch reflexmäßig, die harmloseste von allen: Abformungen. Höre ich, wie mein Zahnarzt diese anordnet, klingt es für mich wie: „Tod durch den Strang!“ Sogleich bricht bei mir kalter Schweiß aus, und ich werde unruhig.
Da mein Zahnarzt, ein wirklich sehr guter und ruhiger Vertreter seiner Zunft, zumal mit einem leisen Sarkasmus versehen, was mir sehr entgegenkommt, um meine Panik bei Abdrücken weiß, hat er kürzlich eine neue Methode ausprobiert. Er muss wohl noch vor meinem Eintreffen den Helferinnen gesagt haben: „Sie können bei der Patientin alles in Sichtweite hinlegen, Spritzen grässlich großer und bedrohlicher Gestalt, Zangen, Feilen, Skalpelle, Nahtzubehör, sogar Äxte! Das irritiert sie nicht. Aber legen Sie um Himmels willen nichts heraus, was auch nur entfernt an Abformungen erinnern könnte! Bitte nicht! Das machen wir während der Behandlung, wenn es ansteht und sie sich nicht umdrehen und zusehen kann. Bitte hören Sie auf meine Worte! Ich weiß, wovon ich spreche!“
Und so begab es sich, dass bei der letzten Behandlung mit notwendiger Abformtätigkeit nur Beile, Äxte, Sägen, ein Morgenstern und sonstiges Zubehör bereitlagen, bei dessen Anblick jeder Mensch, der bei klarem Verstand ist, sofort sein Heil in der Flucht gesucht hätte. Ich hingegen setzte mich beruhigt in den Behandlungsstuhl. Eine kleine Restbefürchtung war vorhanden, denn ich bin zu erfahren, um nicht zu wissen, dass bei der anstehenden Behandlung Abdrücke vonnöten waren. Aber ich dachte: „Sicherlich erst beim nächsten Termin.“
Aber unter der nicht angenehmen Behandlung kam sie dann: die neue Methode! Denn mein Zahnarzt rief irgendwann seinen Helferinnen zu: „Jetzt!“ Und schon breiteten sie das Grauen aus: mehrere Oberkiefer-Abdrucklöffel verschiedener Größen und Macharten, Abformmaterial verschiedenster Materialausprägungen und Couleur (und Letzteres ist auch wörtlich gemeint – von zartem Rosa bis hin zu schrillem Neongrün war alles vorhanden), ebenso einen Abdrucklöffel mit Schläuchen daran, die sie an die Wasserleitung anschlossen! Um Himmels willen! Mein Alptraum! Denn der Abdruck, bei dem der besonders große und doppelwandige Löffel mit der Wasserleitung verbunden ist, da die Abdruckmasse – quasi „von innen“ ausgekühlt – aushärtet, ist besonders qualvoll. Der „Löffel“ ist noch größer als normal, und der Abdruck dauert auch länger. Pure Folter, und ich reagiere darauf immer völlig konträr zu meiner ansonsten stets rational-ruhigen Wesensart.
To cut a long story short: Mein Zahnarzt stellte einmal mehr fest, dass ich einen „slawischen“ Oberkiefer habe, ergo recht breit, was angesichts meiner partiell slawischen Abstammung nicht wunder nimmt, und so mussten wir den ganz besonders großen und grauenhaften Abdrucklöffel bemühen. Kaum hatte man mir diesen gegen den Oberkiefer gestemmt, lief auch schon das Abformmaterial ganz possierlich Richtung Rachen, und so kam es, dass ich schließlich wegen akuten Brechreizes mit einer Nierenschale in den klammen, feuchten Fingern mit Schnappatmung und stark nach vorne gebeugt im Behandlungsstuhl kauerte, dieweil mein Zahnarzt die blutende Scharte desinfizierte, die ich ihm im Handgemenge und völlig unbeabsichtigt am Arm beigebracht hatte, als ich – Reflex! – den sperrigen Abdrucklöffel mit beiden Händen aus meinem Mund zu reißen trachtete, während mein Zahnarzt, der kein Risiko scheut, meine beiden Hände festhalten wollte … „Berufsrisiko“ meinte er nur grinsend, als ich mich tausendmal entschuldigte, nachdem der Abdrucklöffel entfernt und ich mit kaltem Schweiß auf der Stirn und im Dessous reue- und kummervoll mein Bedauern kundtat.
Fazit: Auch diese Methode taugt nicht. Mein Zahnarzt hat das auch sofort eingesehen.
Heute früh war ich einmal mehr in der Praxis, da einer der „Brückenpfeiler“ in meinem Mund Schmerzen verursacht hatte. Der Grund konnte oberflächlich nicht erkannt werden, und so lautete das Verdikt des Arztes: „Röntgen.“
Als wir gemeinsam die Bilder betrachteten, mit ein bisschen so etwas wie Rührung und wie „Omma“ und „Oppa“, die die Bilder ihrer Enkelchen ansehen, meinte der Zahnarzt: „Alles bestens. Die Wurzel perfekt – keinerlei Entzündung. Haben Sie denn jetzt noch Schmerzen?“ – „Nee, die sind weg. Aber sehen Sie doch mal da!“ Und ich zeigte mit meinem Finger auf eine Stelle des Röntgenbildes, die bisher schmählich vernachlässigt worden war. Sie lag jenseits der herkömmlichen Zähne von 1 bis 7 – dahinter. Da hatte sich etwas ausgebreitet, das bis dato viel tiefer gelegen hatte. Vorhanden zwar, aber nie so präsent wie auf dem heutigen Röntgenbild: ein Weisheitszahn. Zwar immer da gewesen, aber nie auf diesem Level, nie so hoch. Der Zahnarzt meinte sofort: „Ziehen wir ein Vergleichsbild heran!“ Das stellte kein Problem dar, denn es existieren zahlreiche Vergleichsaufnahmen meiner stets reparaturbedürftigen Kiefer. Und siehe da: In meinem zarten Alter hat einer der bei mir überhaupt angelegten Weisheitszähne beschlossen, sein weises Haupt zu erheben! Zumindest scheint er massiv darauf zu drängen, das Licht der Welt zu erblicken. Daher wohl auch meine Beschwerden. Ich starrte böse auf das Röntgenbild – der blöde Weisheitszahn erinnerte mich fatal an den Eisberg, der anno 1912 der RMS Titanic im Weg gestanden hatte. Der größere Teil lag unter der Wasseroberfläche …
Ich bin begeistert. Seit Jahren lag der kleine Wicht im Tiefschlaf, und just jetzt, da ausnahmsweise keine anderen dentalen Probleme anstehen, plant er seinen Durchbruch! Wollen wir hoffen, dass er seinen Kollegen oben links nicht noch angestiftet hat, ein Gleiches zu tun!
Immerhin kenne ich nun die dentalmedizinische Marschroute fürs nächste Jahr: Weisheitszahn-OP. Wie sagte mein Zahnarzt grinsend: „Ab dem 27. Lebensjahr nehmen die Risiken einer solchen OP exponentiell zu.“
Welch Glück – ich liege ja nur ganz knapp über diesem Stichdatum! 😉