Ungeahnte Dinge ergeben sich ja meist, wenn man gar nicht mit ihnen rechnet. Ich bin im Moment leider etwas überarbeitet und – ich sage es ungern, da es so oft unbedacht geäußert wird und ein sehr abgenutzter Begriff ist – urlaubsreif. Vieles nervt mich, und ich sehne die vorlesungsfreie Zeit herbei, da ich dann endlich in den Urlaub verschwinden kann, ohne dass es einen großen oder weniger großen Geist stört.
Letzten Donnerstag kam ich wie üblich recht spät von meiner Tätigkeit aus der Uni einer benachbarten Stadt hier an meinem Wohnort an. Stundenlang hatte ich arme Studenten und Studentinnen gequält und, da das Wetter endlich mal viel zu schön fürs Studieren wie auch Dozieren war, auch mich. Es ist nicht sonderlich erquicklich, in einem schlecht belüfteten, halb abgedunkelten Raum bei Kunstlicht – die Verdunkelung ließ sich nur partiell öffnen, die Fenster gingen zur Straße – Leute mit mehr oder minder spannenden Texten und Übungen zu sekieren, während draußen das Leben im Sonnenschein tobt und lachende Menschen in Freizeitkleidung zum sogenannten „Public Viewing“ strömen, da Deutschland gegen die USA spielt.
Aber auch das längste Seminar hat einmal ein Ende, und meine Eleven strebten so eifrig, wie sie im Seminar meist nicht sind, aus dem Raum, ich hingegen zur S-Bahn Richtung Heimat.
Dort angekommen, beschloss ich, einen Spaziergang durch den vom Sturm stark gebeutelten Park um ein mitten in der Stadt gelegenes Schloss zu machen, in dem ich bereits als Kleinkind oft mit meiner Mutter zum Entenfüttern gewesen war – eine Oase inmitten von Baustellen und Ruhrgebietsarchitektur. Nach stundenlangem Sitzen, Stehen und Anfeuern von Studis war mir danach, Ruhe und Entspannung in vergleichsweise natürlicher Umgebung zu finden.
Aber, ach! Der Park war zu großen Teilen geschlossen, nur die Hauptwege passierbar, denn durch den Sturm am Pfingstmontag waren zahlreiche Bäume derart geschädigt worden, dass die Nebenwege allesamt mit Flatterband abgesperrt waren. „Gesperrt! Achtung! Lebensgefahr durch Astbruch!“ war zu lesen, und wer mich kennt, weiß, dass ich eine kleine Bedenkenträgerin bin, die dann wirklich lieber nur die nicht gesperrten Hauptwege benutzt. Vielleicht geschieht dies auch, weil ich mich kenne: Während –zig andere Leute, risikofreudiger als ich, ohne Probleme wider die Warnung handeln, würde mir sicherlich sofort ein Ast auf den Kopf fallen … Ich weiß nicht, warum, aber offenbar bin ich so ein Mensch.
Ich sollte belohnt werden. Denn ich ging nun einen Hauptweg entlang, links vorbei am Schloss, und da bot sich mir folgendes Szenario: Neben einem der etwas müffelnden und durch Algen und Entengrütze schleimig wirkenden Teiche lagen eine kleine weiße Gans und eine Kanadagans und ruhten im Gras. Sie sahen mich aufmerksam aus einem Auge an (Vögel haben die Augen ja seitlich am Kopf angebracht, und so betrachten sie einen, wenn sie einen beobachten, grundsätzlich nur aus einem Auge, da sie einen frontal nicht gut sehen würden), rührten sich jedoch nicht, als sie merkten, ich würde ihnen nichts tun. Etwa fünf Meter weiter hingegen bewegte sich ein Gänsepaar einer anderen Rasse, das bereits mit gesträubtem Halsgefieder auftrat und mir drohend entgegen schrie. Eine Haltung, die ich im Allgemeinen nicht sonderlich schätze, zumal ich im Grunde ein friedlicher Mensch bin. Ich schimpfte freundlich mit den Gänsen, die sich kaum beruhigen ließen, mich zum Glück jedoch nicht attackierten. Als ich näher kam, sah ich auch, was der Grund für das Geschimpfe war: Ein niedliches Gänseküken lief sehr ziel- und selbstbewusst zunächst auf mich zu, wobei es leise und fragend: „Wi-wi-wi?“ machte. Kurz vor mir blieb es stehen, legte das Köpfchen so, dass es mich sehr intensiv in sein rechtes Auge fassen konnte (siehe oben), wobei es weiterhin: „Wi-wi-wi?“ äußerte, dann aber lieber an mir vorbeilief. Man weiß ja nie. Ich lachte und meinte: „Keine Angst, ich tue dir nichts.“ – „Wi-wi-wi!“
Ich ging grinsend weiter und war auch schon ein paar Meter entfernt, als ich hinter mir eifriges Trippeln kleinerer Füße als meiner hörte, dazu niedlich klingende Rufe. Als ich mich umdrehte, bot sich mir folgendes Bild: Das Gänschen rannte hinter mir her, dahinter drei juvenile Teichhühner und mit sehr, sehr großen Füßen versehen, dazu ihre Mutter, und ganz zum Schluss die Eltern des Gänschens, die laute, aber inzwischen freundliche Rufe absonderten. Damit nicht genug, kamen von der anderen Seite des Weges noch zwei Enten, die eigens aus dem dort gelegenen Teich gestiegen waren, um sich sensationslüstern unter fröhlichen „Waat! Waat!“-Rufen und Geschnatter dem merkwürdigen Zug anzuschließen.
Insgesamt liefen neun Wasservögel verschiedener Arten und Altersstufen hinter mir her! Ich kam mir vor wie der Rattenfänger von Hameln, nur ohne Flöte und ohne Ratten bzw. Kinder. (Obwohl: Kinder waren auch vier dabei, nur keine menschlichen.) Ich lachte und meinte: „Was wollt ihr denn? Bleibt schön da, wohin ihr gehört!“ (Ich gebe zu, ich rechnete nicht damit, auf Verständnis zu stoßen.) Und ich drehte mich um und ging weiter, doch die Bande rannte auf wackeren Beinchen weiter hinter mir her. Allerdings keineswegs drohend, sondern wohl einfach aus Neugier, zumal ich ja mit ihnen gesprochen hatte. Ein Mann, der auf dem Fahrrad an mir vorbeifuhr, lachte sich fast krank und meinte: „Was haben Sie denn mit denen gemacht? Nicht, dass die Ihnen bis nach Hause folgen!“ Um Himmels willen! Allein die Vorstellung! Vor meinem geistigen Auge sah ich bereits die ganze Belegschaft schnatternd und piepsend die Treppen bis zu meiner Wohnung hochhüpfen bzw. in vier Fällen getragen werden, um dann in meiner Eckbadewanne ihre Kreise zu ziehen …
Da dies nicht die beste Idee war, sprach ich ein Machtwort: „Ich gehe jetzt weiter, und ihr bleibt schön hier!“ Zunächst liefen sie noch immer hinter mir her, aber da ich mich nicht mehr umdrehte, gaben sie dann wohl auf. Was für ein Hallo es wohl gegeben hätte, wäre ich mit einer Schleppe aus neun verschiedenen Wasservögeln in die Straße eingebogen, in der ich wohne! Und ich hoffe, niemand hat mich dabei beobachtet, wie ich mit einer Fangemeinde aus neun Wasservögeln „diskutierte“ …
Fazit: Hoffentlich werden die Sturmschäden im Park alsbald behoben – die kleinen Parkbewohner sind offenbar den Anblick von Menschen nicht mehr gewohnt, denen sie dann neugierig hinterher rennen, als handle es sich um Außerirdische.