Allerlei Weltanschauliches

Ich habe einen Kollegen … „Nein!“ werdet Ihr jetzt rufen. „Echt? Einen Kollegen? Du machst es dir aber auch immer schön!“ Aber unterbrecht mich doch, bitte, nicht, denn es ist ein ganz besonderer Kollege – ich teile ein Büro mit ihm. Und das schon seit fast einem Jahrzehnt – grauenhaft, wie schnell die Zeit vergeht. Erstaunlich jedoch, dass ich nach dieser Zeit noch immer relativ gelassen berichten kann. Denn der Kollege ist ein ganz besonderer und außergewöhnlicher Mensch, wie er zu betonen nicht müde wird, während ich in all meiner Gewöhnlichkeit danebensitze und dauernd damit beschallt werde, sowohl direkt, wenn er mit mir persönlich spricht, aber auch indirekt, wenn er mit seinem Kreis an „Illuminati“ spricht, Leuten, die genauso besonders sind wie er. Ein kleiner Kreis, natürlich, aber wie er extraordinär. Allesamt besonders sensibel und für das Leid der Welt extrem empfänglich.

Mein Kollege ist so sensibel und empfänglich für dieses Leid, dass er sowohl seinen Fernseher abgeschafft hat, als auch keine Zeitung mehr liest, da ihn der Konsum dieser Medien stets an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringe. Man merkt ihm den Verzicht bisweilen an. Zwar nicht an den Nerven, mehr an anderem.

Wir haben nicht immer die besten Zeiten im Büro, zwei grundverschiedene Menschen auf so engem Raum, und noch relativ am Anfang beschied er mir eine psychische Störung, und das, wie er meinte, ganz versteckt, raffiniert und kunstvoll, als er damals sagte: „Meine Frau meint ja, Leute, die mit Anfang, Mitte 30 noch nicht zu Gott gefunden haben, hätten alle ein psychisches Problem.“ Da ich zu diesem Zeitpunkt die Einzige vor Ort war, auf die die Konditionen für die angenommene Problematik zutrafen, fand ich seine Darstellung nicht ganz so kunstvoll und subtil wie er, grinste und meinte, man könne das dank des wunderbaren Phänomens des Pluralismus auch komplett konträr sehen, ohne dafür bestraft zu werden oder etwas Falsches zu sagen. Der Kollege kaute an dem Begriff „Pluralismus“, und ich hatte meine Ruhe und durfte mich obendrein noch als Siegerin fühlen.

Leider aber musste ich mir in Folge wiederholt anhören, er sei ein guter Christ und ebensolcher Mensch. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man bei Leuten, die so etwas über sich selber kundtun, nur eine Reaktion zeigen sollte: Beine in die Hand nehmen und ganz schnell in die andere Richtung rennen, auf alle Fälle weit weg von der Person, die diese Eigenschaften für sich postuliert. Vielleicht aber habe ich auch das Christentum einfach immer fehlinterpretiert, und dabei geht es in Wirklichkeit darum, für sich selber stets das Beste und Meiste herauszuholen. Ich habe keine Ahnung – offenbar habe ich da etwas missverstanden, angesichts so mancher Menschen, die sich als „gute Christen“ bezeichnen.

Doch weg von Glaubensauffassungen religiöser Natur. Es gibt ja auch noch andere … Und davon so viele, und ich habe schon so viele miterleben müss…, nein, miterlebt. Ich weiß nicht, wie Ihr es mit Esoterik haltet. Mein Kollege hält gar nichts davon, da diese seinem religiösen Glaubensverständnis zuwiderlaufe. Offenbar haben wir auch unterschiedliche Auffassungen von Esoterik – denn ich sehe immer wieder, wie er sich begeistert auf alle möglichen Aspekte vom Esoterikmarkt stürzt. Besonders beliebt ist hier das Enneagramm, ein grafisches Strukturmodell, das neun unterschiedliche Persönlichkeitsausprägungen strukturiert.

Zunächst dachte der Kollege, ich sei eine Acht. Ich hatte keine Ahnung, was es damit auf sich habe, und so machte ich mir tatsächlich um des Bürofriedens willen die Mühe, im Internet zu recherchieren. Und ich war mir rasch gewiss, dass ich – sollte das Strukturmodell irgendwann unerwartet wissenschaftlich als sinnstiftend anerkannt werden – ganz bestimmt keine Acht sei. Achten seien dogmatische Anführer, die keinen Widerspruch dulden. Das bin ich nicht, aber es erklärt einiges hinsichtlich meines Kollegen Menschenkenntnis.

Ich machte sogar einen Test! „Welche Persönlichkeitsstruktur haben Sie?“ Heraus kam, dass ich eine Vier sei – ein künstlerisch veranlagter, sensibler Mensch, der aufgrund seiner Andersartigkeit bei anderen bisweilen anecke. Als ich dies dem Kollegen sagte, wurde dieser blass, und er stammelte: „Das kann nicht sein! Ich bin doch eine Vier!“ (Würde ich das Enneagramm als wahr und fundiert anerkennen, würde ich ihm keinen Viererstatus zuerkennen …) Wie konnte ich nur? Ich mit meinem groben Wesen sollte eine Vier sein? Des Kollegen Alleinstellungsmerkmal war in Gefahr, und das war mein Glück, denn seitdem wird das Enneagramm nicht mehr erwähnt.

Doch zum Glück kam eine Kollegin aus seinem Dunstkreis öfter zu Besuch ins Büro, die sich in allerlei Kursen persönlichkeitshalber weiterbildete. Fortan wurden wir mittels der „Selbst-Klopfmassage“ zu uns selber geführt, auf dass wir eins mit uns werden würden. Mich störte nur leider das dumpfe Geräusch, das in der Folgezeit meine Konzentration beeinträchtigte, wenn mein Kollege sich selber beklopfte. Noch schlimmer die Kommentare, wie gelöst er sich schon fühle – das sei ja eine großartige Methode! Schade nur, dass ich mich durch das monotone Klopfgeräusch rasch sehr angespannt fühlte …

Noch schlimmer aber wurde es, nachdem die oben genannte Weiterbildungskollegin einen Kurs „Wünschelrutengehen für Einsteiger“ gemacht hatte und in unserem Büro eine erkleckliche Zahl an Wasseradern entdeckte! Unter dem Arbeitsbereich des Kollegen eine besonders große! Der Kollege wurde daraufhin erst einmal krank, und ich stellte in dieser Zeit fest, dass ich mit den Wasseradern hervorragend zurechtkam, jedenfalls besser als mit des Kollegen Allüren.

Doch auch das war rasch out. Stattdessen kamen die Schüßler-Salze auf, und mein Kollege, der ein immenses Sicherheitsbedürfnis sein eigen nennt – ich nenne es „Vollkaskomentalität“ -, stellte eine gläserne Salatschüssel auf seinen Schreibtisch, bis zum Rand angefüllt mit weißen Tabletten – Schüßler-Salze eben. Auf die Frage, welche Sorten er denn da habe, meinte er: „Alle!“ Immerhin – das war mal pragmatisch gedacht!

Ich bin, ich gebe es zu, auch bei den Schüßler-Salzen skeptisch, was ich wohl zum Teil meinem Status als Ingenieurtochter zu verdanken habe, aber selbst wenn ich daran glauben würde, erschiene mir doch die Maßnahme, einfach alle verfügbaren Salze in eine große Schüssel zu kippen, um dann damit alles abzudecken, sämtliche dräuenden Krankheiten abzuwenden, sehr fragwürdig. Fortan wurde ich wiederholt Augenzeugin, wie der Kollege sich immer wieder beiläufig eine Handvoll Tabletten in den Rachen warf, wie unsereins sich eine Handvoll Erdnüsse genehmigt. Ein positiver Fortschritt hinsichtlich des Kollegen stets angeschlagener Gesundheit war leider nicht zu erkennen.

Viele weitere Aspekte alternativer Medizin, jedoch auch esoterische, kreuzten meine Bahn – unfreiwillig. Inzwischen sind wir bei Globuli. „Wir“? Ja, auch ich, denn ich erlebe ja alles hautnah mit. Der Kollege findet es gar nicht nett, dass ich die Dinger immer „Glaubuli“ nenne, aber wie könnte ich anders – die Dinger scheinen seine dauernden Leiden auch nicht bekämpfen oder abwenden zu können. Stattdessen bewirken sie – indirekt -, dass ich mich bisweilen sehr, sehr schwach fühle in diesem Büro, das von verschiedensten Weltanschauungen und Aberglauben geprägt ist, die ich nicht teile.

Aber was sehe ich da? Tut mir leid, aber ich muss hier abbrechen! Da kommt gerade eine Kollegin mit der Fernsehzeitung, in der hinten das Horoskop steht. Das muss ich jetzt erst einmal lesen – das werdet Ihr sicher verstehen. Bis zum nächsten Mal!

2 Gedanken zu „Allerlei Weltanschauliches

    • ali0408 sagt:

      Warte nur – vielleicht berichte ich ja auch noch von meinem Kirchenaustritt im Amtsgericht AC. Da gab es auch einiges, was irre schien … 😉

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